Kein Punkt für Barbie: Wie der Verein "spiel gut" in Ulm arbeitet
Bei Spielzeug gilt: Gut ist, was sich verkauft. Doch ein kleiner Verein aus Ulm kämpft hartnäckig gegen den stetig wachsenden Berg mittelmäßiger Brettspiele, Sprechpuppen und Monsterfiguren.
Der Bagger sieht aus, wie man sich einen Spielzeugbagger für den Sandkasten vorstellt: schwarze Kunststoffreifen, gelber Aufbau, ein langer Arm mit einer Schaufel. Er wirkt robust, ein Kind kann darauf sitzen und ihn mit einem Hebel steuern. Nur leider stimmt etwas mit der Schaufel nicht. „Das Kind sitzt im Sandkasten, schaufelt die Erde hoch, die Schaufel rastet oben steil ein – und der ganze Sand rutscht wieder heraus,“ sagt Ingetraud Palm-Walter, die den Bagger im Videogespräch vor die Kamera ihres Computers wuchtet: „So macht Spielen keinen Spaß!“
Kein Spaß! Ein vernichtendes Urteil. Und Palm-Walter muss es wissen. Schließlich ist die 65-jährige ehemalige Erzieherin Vorstandsmitglied von „spiel gut“.
„Spiel gut“ ist in Deutschland eine Institution, eine Art Dudenredaktion für Spielzeuge. Die Geschichte des „Arbeitsausschuß kinderspiel + spielzeug“ – so der offizielle Titel – begann vor 70 Jahren mit einer Spielzeugausstellung in einem Ulmer Museum. Die damaligen Mitglieder verfassten einen Ratgeber für „gutes Spielzeug“. Bis heute zeichnet der Verein Spielsachen aus, die seinem strengen Kriterienkatalog standhalten. Der orangefarbene Punkt, das „spiel gut“-Siegel, ist die einzige Auszeichnung in Deutschland, die pädagogisch wertvolles Spielzeug unabhängig bewertet. Gefördert wird die Arbeit vom Bundesfamilienministerium. „Im Laden können Eltern nicht sehen, was in einem Spielzeug steckt“, sagt Palm-Walter. „Und Enttäuschungen sind die größten Spielverderber.“
Spiel gut: Eltern Orientierung beim Spielzeugkauf geben
Eltern eine Orientierung beim Spielzeugkauf bieten – das erscheint heute wichtiger denn je. Etwa fünf Milliarden Euro werden in Deutschland jährlich für Spielzeug und Spiele ausgegeben, allein auf der Nürnberger Spielwarenmesse wurden dieses Jahr rund 120.000 Neuheiten präsentiert. In der Flut von Brettspielen, Puzzles, Bauklötzen, Eisenbahnen, sprechenden Puppen und Monsterfiguren will „spiel gut“ für Verbraucher ein Leuchtturm sein.
Wobei seine Leuchtkraft eher gering ist, verglichen mit der Energie, mit der internationale Spielzeugkonzerne ihre Produkte in den Markt drücken. Allein Lego gab 2022 fast 42 Millionen Euro für Werbung aus – nur in Deutschland. „Spiel gut“ dagegen besteht im Kern aus ein paar Dutzend Ehrenamtlichen. Ihre Arbeit fühle sich oft wie ein Kampf gegen Windmühlen an, räumt Palm-Walter ein. Ein Kampf, wie ihn die Gallier in den Asterix-Comics gegen die übermächtigen Römer führen.
Für Konzernbilanzen ist Spielzeug gut, wenn es sich häufig verkauft. Dass es die Fantasie anregt, lange hält und möglichst umweltverträglich produziert wurde – Punkte, die „spiel gut“ wichtig sind –, dürfte in vielen Fällen zweitrangig sein. Aber liefern die Hersteller letztlich nicht das, was Kinder eben wollen? „Bei ‚spiel gut‘ kommt die Empfehlung von Erwachsenen für Erwachsene“, urteilt jedenfalls Steffen Kahnt, Geschäftsführer des Bundesverbands des Spielwaren-Einzelhandels. „Leuchtende Augen gibt es aber nur dann, wenn die Eltern sich an den Wunschzettel der Kinder halten.“
Das Team testet rund 500 Spielzeuge im Jahr
Um die 500 Produkte testen die „spiel gut“-Mitglieder pro Jahr. Sie lassen Familien und Kindergärten damit spielen und in seitenlangen Fragebögen bewerten. Danach tagt eine Jury aus Architektinnen, Ärzten, Psychologen, Designern und Erzieherinnen. Auch der Augsburger Spielzeugforscher Volker Mehringer ist Mitglied. „Da sitzen Leute aus den unterschiedlichsten Disziplinen zusammen, die schon Hunderte von Spielzeugen bewertet haben“, sagt er. „Das ist ein Wissensschatz, über den nur wenige in der Branche verfügen dürften.“
Was die Spieletester für gut befinden, stellen sie auf ihrer Webseite vor. Gegen eine Lizenzgebühr können die Hersteller mit der Auszeichnung werben. Das macht zum Beispiel das Start-up Joboo, dessen bunte Stapelsteine einen kleinen Hype losgetreten haben. Mit den geschäumten Steinen zum Balancieren und Spielen hat Joboo nach eigener Angabe vergangenes Jahr 15 Millionen Euro umgesetzt – vier Jahre zuvor waren es nur 500.000 Euro. „Das Siegel war für uns eine schöne, unabhängige Bestätigung von außen, als wir noch unbekannter waren“, sagt Gründer Stephan Schenk.
Längst nicht alle ausgezeichneten Hersteller packen das Siegel auf ihre Produkte. Im Normalfall sind die Verpackungen bereits produziert und können frühestens bei der nächsten Auflage mit dem orangefarbenen Punkt versehen werden. Großunternehmen wie Lego verzichten laut „spiel gut“ auf das Siegel, selbst wenn sie es erhalten. Ihre Produkte würden ohnehin global vermarktet, und international habe die Auszeichnung kein Gewicht.
Rund die Hälfte der getesteten Spielzeuge fällt für "spiel gut" durch
Gut die Hälfte der getesteten Spielzeuge wird abgelehnt, so wie der Bagger mit der fehlerhaften Schaufel. Oft passe auch die Altersangabe nicht. Viele Hersteller würden diese für ihre Spielzeuge übermäßig absenken, um möglichst viele Kinder zur Zielgruppe zu erklären. Klassiker wie Barbie sucht man in der „spiel gut“-Auswahl vergeblich. „Der unnatürlich schlanke Körper, das Konsumverhalten – die Barbie transportiert Werte, die für uns inakzeptabel sind“, sagt Palm-Walter. Barbie-Hersteller Mattel teilt auf Anfrage mit, man schätze die Unabhängigkeit von „spiel gut“, sehe den Verein aber eher als Nischenphänomen.
Viele Puppen haben aus Sicht von „spiel gut“ noch ein weiteres Problem. Sie enthalten oft den Kunststoff PVC, den der Verein seit 2005 ausschließt. Wird ein Spielzeug nicht prämiert, erhalten die Hersteller ein ausführliches Feedback. Sie können nachbessern und das Spielzeug dann erneut testen lassen. Öffentlich macht „spiel gut“ seine Kritik nicht. Die Mitglieder wollen keine Negativ-PR machen.
Auch Spiele des Unternehmens Ravensburger werden regelmäßig vom Ulmer Verein getestet. Oft geht das gut. Dann sei es eine „wertvolle Bestätigung, dass das Produkt wirklich gut ist“, sagt Sprecherin Cordula Schnieber. Gerade im Bereich der Lernspiele mache sich das bezahlt: „Wenn da im Handel mehrere ähnliche Produkte nebeneinander liegen, greift man eher zum Spiel mit dem Siegel.“
Die Kriterien sind streng
Manchmal schütteln sie bei Ravensburger aber auch die Köpfe, wenn mal wieder ein Brief aus Ulm eintrifft. Dann geht es um, nun ja, Geschmacksfragen. Denn der Verein bewertet auch die Ästhetik, das Design eines Produktes. Zu bunt, überzeichnet, im Comicstil? Das kommt nicht gut an.
Ravensburger reichte 2017 das Lernspiel „Die Lese-Ratte“ ein. Der Karton zeigte eine grinsende Ratte mit Knollennase, die an den Disney-Film Ratatouille erinnert. „Spiel gut“ verweigerte das Siegel. Die Begründung: Der Wiederspielwert sei gering, die grafische Darstellung der Personen und Tiere „grotesk“. Ravensburger-Sprecherin Cordula Schnieber kann das schwer nachzuvollziehen: Die Lese-Ratte sei ein Topseller in der Reihe ‚Spielend Neues Lernen‘, außerdem müsse ein Produkt im Regal ja auch auffallen. „Das schönste Spiel nützt uns nichts, wenn es sich nicht verkauft.“
Bisweilen ist man aber auch bei „spiel gut“ kompromissbereit: 2021 etwa bekamen die Mitglieder eine neue Version des Klassikers „Obstgarten“ von Haba auf den Tisch. Doch der Rabe, der den Kindern im Spiel das Obst stibitzt, hatte nun statt eines schwarzen einen gelben Schnabel. „Raben haben aber nun mal schwarze Schnäbel“, sagt Vorstandsmitglied Palm-Walter. Am Ende vergaben sie das Siegel trotzdem. Palm-Walter räumt ein: „Tatsächlich sieht er mit gelbem Schnabel viel freundlicher aus.“
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