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Sommerserie "Kultur aus Haunstetten": Haunstetten für Fortgeschrittene - der zweite Dienstag

Sommerserie "Kultur aus Haunstetten"

Haunstetten für Fortgeschrittene - der zweite Dienstag

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    So sah Kino-Werbung aus Haunstetten für Haunstetten aus.
    So sah Kino-Werbung aus Haunstetten für Haunstetten aus.

    Ein Farbfoto zeigt die letzten Kühe von Haunstetten. Luise Miller hat es mitgebracht an unseren mobilen Schreibtisch. 2011 haben die den Kuhstall für immer geschlossen. 68 Viehalter gab es einmal in Haunstetten, und eine Milchsammelstelle. Alles verschwunden. Verschwunden wie die drei Kinos, verschwunden wie die Faschingsgesellschaft Haunarria, verschwunden wie die alte Schmiede, die einmal da stand, wo wir jetzt sitzen. Aber es gibt ja die Fotografie . Und Menschen, die weitergeben, was sie gesehen, erfahren und erlebt haben.

    Jeder hortet Erinnerungen, sammelt sein Leben in Alben und Mappen oder neuerdings auf Telefonen und Festplatten. Dass Privatarchive für alle interessant sein können, dass persönliche Lebensspuren an einem Ort etwas über das Leben aller erzählen – das zeigt sich an unserem zweiten Dienstag unterm Maibaum auf dem Georg-Käß-Platz in Haunstetten.

    Unglaublich viele Zeichnungen und Gemälde

    Wir hatten gebeten, Bilder mitzubringen, die wir gemeinsam anschauen wollen. Und es gibt viel zu schauen! Auf unseren Tischen stapeln sich Bücher, Broschüren, Alben und Fotos. Und unglaublich viele Zeichnungen und Gemälde, gerahmt oder gerollt von Albert Leidl, jenem malenden Schuhmacher aus Haunstetten, dessen Geschichte uns am ersten Dienstag erzählt worden war. Der „Bertl“, der 1988 starb, ist in vielen Haunstetten Wohnungen präsent. Es gibt sogar Kalenderblätter nach Werken des Haunstetter Originals.

    Heinrich Mannsberger, Jahrgang 1940, hat 17 Werke vom Bertl. Er kannte den Mann, weil er ihm ab und zu im Jägerhaus ein Bier ausgab, wenn er aus dem Kino „Atrium“ kam, wo er als Filmvorführer arbeitete. Mannsberger hat in allen drei Haunstetter Kinos als Vorführer gearbeitet, vor allem im Atrium, für einige Zeit auch im Central und im 3Mäderlhaus. Der Bertl sei ein umgänglicher Typ gewesen. Dass er irgendwie malte, hatte Heinrich Mannsberger zwar einmal mitbekommen. Doch seine 17 Zeichnungen hat er erst nach Leidls Tod erworben, bei einer Verkaufsaktion im St. Jakobsstift in Augsburg, dem der Schuhmacher sein Vermögen vermacht hatte. „Ich bin da zufällig hingeraten und staunte, als ich die Bilder sah: Die sind ja vom Bertl!“

    Ein Mädchen auf einer Eisscholle

    Kein Zufall, sondern „Kultur aus Haunstetten“ führt an diesem Dienstag auch den Filmvorführer Mannsberger und den Bäcker Kästele zusammen. Zwei Fotos der Bäckerei hat der dabei, aus den 1950er Jahren. Das Haus der Kästeles mit dem Geschäft war eines der ersten an der Hofackerstraße, drumherum noch Wiesen. Und die Kästeles machten damals auch Werbung in den Haunstetter Kinos. Josef Kästele zeigt uns ein Glas-Dia – ein Eisbär und ein Mädchen auf einer Eisscholle und darüber der Werbespruch: „Die beiden haben’s gar bald entdeckt, dass Kästele-Eis auch wirklich schmeckt.“ Ein bisschen Arktis kann in dieser Sommerhitze am Georg-Käß-Platz nicht schaden.

    Rudolf Peschanel ist auf den Schwarz-Weiß-Fotos aus den 1950er und 60er Jahren gut zu erkennen – selbst mit Augenklappe und als Pirat verkleidet. Ein ganzes Album hat er mitgebracht, dessen Rücken mit „Bälle“ beschriftet ist. Viele Köpfe beugen sich über die Bilder, während nebenan der Bagger schaufelt und ein Presslufthammer Beton zerkleinert. Neben der Eichendorffschule entsteht ein neuer Hort. Noch gibt es davon keine Fotos – nur Lärm.

    Das Gesellschaftsleben in Haunstetten

    Vornehm waren sie, die Vergnügungen in der TSV-Turnhalle, „um die sich die Vereine an Fasching damals gestritten haben“, wie Peschanel, heute ein älterer Herr, sich erinnert. Herren in dunklen Anzügen, Damen in Abendkleidern – eine Kultur, die im Gesellschaftsleben in Haunstetten viele Jahre gepflegt wurde. Dokumentiert hat diese Bälle und Abendveranstaltungen der „Foto-Vogel“ (auch verschwunden), der sei „immer rumgesprungen bis Mitternacht“.

    Dann sind an diesem Tag in Haunstetten aber auch Geschichten zu hören, von denen es keine Fotos gibt. Zum Beispiel über den Amtsboten der früheren Stadt Haunstetten – Ludwig Gaßner – ein Bote für alle, allen bekannt. Wer was aufs Amt bringen musste oder Gebühren zu zahlen hatte, gab’s dem Gaßner mit. Wie praktisch eine Stadt gewesen sein muss, die einen Gaßner für alle Fälle hatte. In Haunstetten erinnert heute die Ludwig-Gaßner-Gasse an ihn.

    Das dienstälteste Mitglied im Kirchenchor

    Edeltraud Hof erzählt, wie das Rote Kreuz in Haunstetten nach dem Krieg seinen Wiederaufbau finanziert hat: Mit Theaterspielen! „Mit Theater haben die Geld gesammelt, Eintrittsgelder und Spenden“, erzählt Hof. Vier bis fünf Rotkreuzler hätten auf der Bühne gestanden – kein Shakespeare, eher Volksstücke und Bauerntheater.

    Luise Miller, die ehemalige Milchbäuerin (und außerdem die Schwester von dem in Haunstetten unverzichtbaren Andreas Brem) singt seit 50 Jahren im Kirchenchor von Sankt Georg und ist, wie sie sagt, das dienstälteste Mitglied. Was aber nicht heiße, dass die Mitsänger besonders viel jünger sind. „Durchschnittsalter heute: zwischen 65 und 70.“ Der Chor hatte einmal eine große Zeit, schwärmt Luise Miller – „wir waren auf Rom-Tournee, wir haben zwei Schallplatten gemacht!“ Ihr Dirigent Wolfgang Reß habe den Chor – „wir waren an die 60 Leute!“ – unglaublich motiviert. Ein Foto zeigt die weihnachtlich geschmückte Kirche und den riesigen Chor. Vielleicht hören wir den Chor ja am nächsten Dienstag – da wollen wir gemeinsam mit unseren Besuchern Schallplatten auflegen auf dem Georg-Käß-Platz …

    Der frauenfreie Abend in der Woche

    Und die Sängergesellschaft Einigkeit hat einen Boten geschickt: Hermann Müller. Der Männerchor gehörte zu den ältesten Vereinen Haunstetten, 1858 gegründet. Früher – im 19. Jahrhundert – sei es eine Ehre gewesen, im Chor singen zu dürfen, nicht jeder wurde aufgenommen, 2013 hat sich der Verein aufgelöst, weil keine neuen Mitglieder nachkamen. Die Sänger – immer noch nur Männer – treffen sich trotzdem weiterhin jeden Freitag und üben. „Das ist der frauenfreie Abend in der Woche“, sagt Müller. Und er will jetzt mal nachfragen im Chor, ob die Sänger ein kleines Konzert an unserem mobilen Schreibtisch geben können. Und wir hoffen dann natürlich, dass die Baustelle von nebenan nicht mehr mit diesem Presslufthammer-Fortissimo die Gehörgänge verstopft.

    Als die Arbeiter ihr Abriss-Tagwerk für den neuen Hort neben der Eichendorff-Schule beenden, ist auch zu hören, wie viele Gespräche auf einmal an unserem Schreibtisch geführt werden. Da ist zum Beispiel Anja Dorn, Lehrerin an der Johann-Strauß-Grundschule, die uns aus ihrem Lyrikband „Im Arm der Schöpfung“ spontan zwei Gedichte vorträgt. Und ihr gegenüber sitzt Walter Frank, der Dorn kennt, weil seine Kinder auf die Strauß-Grundschule gegangen sind. „Ich erinnere mich“, sagt Dorn. – „Susanne und Stefan.“ – „Ja, genau.“ – „Aber sie waren nicht immer so gut in der Schule.“ – „Das weiß ich nicht mehr, bei so vielen Schülern in den Jahrzehnten.“ – „Aus beiden ist aber was geworden.“ Wiederbegegnungen im Zeitraffer, Erinnerungsfetzen, gemeinsame Erlebnisse oder wenigstens gemeinsame Bekannte. Jeder kommt an diesem Schreibtisch mühelos mit jedem ins Gespräch. Man kennt sich. Und erinnert sich – und schon geht es wieder wie ein roter Faden an diesem Tag um die Kinos: „Am 25. Dezember 1945 wurde das Atrium als Jägerhaus Lichtspiele eröffnet“, sagt Karl Wahl. Wie er das so genau wisse? Er habe wochenlang in den Archiven in Augsburg gesessen und dort alles aufgeschrieben.

    Drei Ordner im Fahrradkorb

    Und was man am mobilen Schreibtisch nicht sieht, worüber man an dieser Stelle aber auch einmal schreiben muss: Die Menge an Unterlagen über Haunstetten, die unsere Besucher uns zur Auswertung in die Redaktion mitgeben, steigt unaufhörlich. Ein Ordner über die Geschichte des Brem-Hofs, eine Chronik über den TSV-Haunstetten, Bücher über Haunstetten, der Lyrikband von Anja Dorn, der Roman über das Schicksal eines Zwangsarbeiters bei Messerschmitt von Helmut Baumeister, ein Band über den Bildhauer Christian Angerbauer …

    Manfred Lenz zum Beispiel erzählt uns, dass er einen Tag lang aussortiert hätte zu Hause in seinem Haunstetten-Archiv. Und übergibt uns dann drei Ordner im Fahrradkorb. Zeitungsausschnitte mit Überschriften wie „Als Haunstetten ein eigenes Wappen bekam“, städtische Bürgerinformationen und einen besondern Schatz: Auf die Chronik des FC-Haunstetten sollen wir besonders Acht geben. „Das ist ein Original!“ Festgehalten ist darin von der ersten Erwähnung des FC Haunstetten im Oktober 1924 bis über die Platzierungen der einzelnen Mannschaften bis hin bis zu Protokollen über die Vereinssitzungen so ziemlich alles über den FC.

    Das ist Haunstetten-Training für Fortgeschrittene an diesem zweiten Dienstag in Haunstetten. Und ziemlich zum Schluss kommt mit dem Rad noch Stefan Mokosch. Seine brillanten Farbfotos haben keine Patina. Es sind aktuelle Bilder von Blumen auf schönen Schießplatzheide und aus dem Haunstetter Wald. Die viel gelobte Natur von Haunstetten – auch das ist so ein Kapitel!

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