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Pfingsten: Eiliger Geist

Pfingsten

Eiliger Geist

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    Eiliger Geist
    Eiliger Geist

    Über den Zeitgeist wird gern und oft geklagt. Nur, was genau damit gemeint ist, bleibt meistens offen. Das mag daran liegen, dass jeder seinen eigenen Blick auf die Welt hat. Doch einig sind sich alle darin, dass es immer schneller gehen muss, dass wir immer weniger Zeit haben, dass wir immer gehetzter und gestresster sind. Ständig entschuldigen wir uns: „Ich habe keine Zeit!“ Und wenn wir hin und wieder aus dem Hamsterrad des Alltags aussteigen, stellen wir traurig fest, wie schnell wieder Tage, Wochen, Monate vergangen sind: „Die Zeit rast!“

    Wer vom Zeitgeist spricht, mag Unterschiedliches im Sinn haben. Doch das eigentliche, unverwechselbare Signet unserer Zeit ist die fortwährende innere Beschleunigung, der sich keiner zu entziehen vermag, die immer radikalere Ausgestaltung und Nutzung der Zeit.

    Dreht sich die Welt immer schneller? Oder kommt es uns nur so vor? Die Antwort fällt nicht so eindeutig aus, wie man, frisch abgehetzt und stressgeplagt, denken könnte. Denn zu anderen, den guten, alten Zeiten sahen die Menschen es genauso. Goethe etwa schimpfte 1825: „Alles veloziferisch!“ Das Wort hatte er erfunden, indem er velocitas, die Eile, mit Luzifer, dem Teufel, verband. Die verteufelte Hetzerei war für Goethe „das größte Unheil unserer Zeit“, die „nichts reif werden lässt, und wo man schon im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist“. Auch Kafka litt, ein Jahrhundert später, unter der Nervosität seiner Zeit; die Ungeduld, schrieb er, sei die wahre Ursache für die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Hat sich also doch nichts geändert? War das alles immer schon so, der Leistungsdruck und die Terminhetzerei, das schnelle Geld und die schnelle Liebe, die flüchtige Bekanntschaft und die rasanten Karrieren? Liegt der Unterschied nur in technischen Fortschritten, nicht in tiefer greifenden Veränderungen?

    Nein, die Mobilmachung der Moderne hat seit Goethes Zeiten erst richtig begonnen. Und die Beschleunigung ist noch lange nicht vorbei, sie schreitet voran, Tag für Tag. Schaut man etwa auf die Zeit, die zwischen dem Empfang einer E-Mail und unserer Wahrnehmung dieser E-Mail vergeht, ist in den allerletzten Jahren schon wieder eine enorme Beschleunigung gelungen: Vorbei die Zeiten, als wir die E-Mails erst am nächsten Tag lasen. Jetzt sind wir in Echtzeit im Netz. Auch die Doppel- und Dreifachnutzung ein und derselben Zeit lässt noch Spielräume offen, an die früher keiner gedacht hat: Fitness und Fernsehen, das geht gleichzeitig, aber auch Auto fahren und telefonieren, fernsehen und kochen. Längst sitzt in der Eisenbahn kaum noch jemand und schaut aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft; fast alle sitzen vor Laptops, simsen, e-mailen, sehen fern oder hören Musik. Die letzten Abteilwagen im ICE werden gerade abgeschafft, weil sowieso niemand mehr miteinander reden will; alle wollen die „Zeit nutzen“.

    Wer ist schuld an dieser Beschleunigung? Der Verdacht fällt auf den Kapitalismus, der immer darauf abzielt, mehr Leistung und mehr Konsum zu ermöglichen; Müßiggänger sind seine Erzfeinde. Andererseits wäre es falsch, die Schuld nur auf die böse Arbeitswelt zu schieben. Richtig ist: Der Stress geht in der Freizeit weiter. Längst wollen wir auch dort das Maximum herausholen; fünf Minuten Langeweile sind unerträglich geworden.

    Von den versklavenden Mächten dieser Welt ist die Eile die schlimmste. Offenbar spüren das die Gehetzten und Gestressten auch. Buchtitel wie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ oder „Aus dem Leben eines Taugenichts“ wecken Begeisterung und Sehnsucht, selbst wenn man sie nicht gelesen hat. Abschalten! Aussteigen! Pause machen! Das scheint die tiefste Sehnsucht der gehetzten Welt zu sein.

    Pfingsten ist in diesem Sinne auch ein Gegenentwurf. Denn der Heilige Geist, der mit Pfingsten in die Welt kam, und von dem das Christentum meint, er sei ein unsichtbarer Begleiter quer durchs Leben, kann nur wirken, wo man ihm Platz macht. Wo schon alles verplant ist, wo man selbst alles kontrollieren und bestimmen, wo man jede freie Minute nutzen will, gibt es keinen Heiligen Geist, oder moderner: nichts Zufälliges mehr. Pfingsten ist die Chance, das andere Leben zu entdecken, nach dem wir uns sehnen und für das wir uns doch viel zu selten Zeit nehmen. Heiliger Geist statt Eiliger Geist? Pfingsten als Entdeckung der Langsamkeit? Das wär’s doch.

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