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Leitartikel: Wir um die 30

Leitartikel

Wir um die 30

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    Michael Kerler
    Michael Kerler

    Da ist sein Chef Philipp Rösler, 38, der „Wachstum“ fordert und dem man zurufen möchte, er müsse selbst noch an Statur gewinnen. Da ist Marina Weisband, 24, die junge Piratin, die ihr Amt niederlegt, weil sie „völlig erschöpft“ ist. Und abseits der Politik füllen Artikel die Feuilletons, in denen junge Frauen klagen, dass die jungen Männer zwar wunderbar melancholische Lieder hören, aber den rechten Moment nicht mehr kennen, in dem es darauf ankommt, sich herüberzubeugen und sie zu küssen. Was also ist das für eine mutlose Generation, die da in die Politik und Wirtschaft drängt?

    Generationen mit Etiketten zu versehen (Generation Golf), ist problematisch. Und doch haben die 30-Jährigen eine Gemeinsamkeit, ja: ein Problem. Sie sind geborene Pragmatiker, bereit, allzeit Kompromisse zu machen. Man träumt nicht mehr vom Porsche Carrera, man hat eine BahnCard 25.

    Der Grund für den Pragmatismus liegt in der Jugendzeit. Die 30-Jährigen sind aufgewachsen in den 90ern. Es war die Nachwendezeit unter Helmut Kohl, als die Arbeitslosigkeit stieg, als alle den Gürtel enger schnallten und die Firmen nach Osteuropa abwanderten, bis Gerhard Schröder zur Jahrtausendwende das Land auf Wettbewerbsfähigkeit trimmte: weniger staatliche Leistung, mehr private Vorsorge. Es war eine zugige, globalisierte Epoche, die Jugendkultur brachte Elektromusik hervor und die junge Generation arrangierte sich: Sie hat sich von Praktikum zu Praktikum gehangelt, ein ökonomisiertes Bildungssystem durchlaufen, in dem man mit 22 Bachelor wird statt mit 26 Diplomingenieur. Dass es danach Halbjahresverträge mit niedrigerem Lohnniveau gibt, wundert die Eltern, nicht aber die Betroffenen. Denn Ideologien sind ihnen fremd, Institutionen wie die etablierten Parteien, Kirchen und die staatliche Rentenversicherung suspekt. Die junge Generation ist geprägt von der digitalen Welt: man „postet“ über den Urlaub und den neuen Lebenspartner auf Facebook, sucht seinen Job auf Xing, teilt Videos auf YouTube. Es sind Individualisten, die hier aktiv sind.

    Dabei ist diese Generation alles andere als selbstsüchtig: Sie isst bio und engagiert sich: in einer Nichtregierungs-Organisation, in der kapitalismuskritischen Occupy-Bewegung; das Engagement findet aber außerhalb konventioneller Strukturen statt. Werte stehen hoch im Kurs: Treue, Familie. Gerne wird geheiratet. Denn die Welt draußen ist komplex. Man kann überall hinreisen, alles studieren, alles werden. Entscheidungen fallen schwer. Da sehnt man sich nach einem Anker. Dieser findet sich – ganz genügsam – im Privaten. Hier liegt das Problem. Eine Schar genügsamer Pragmatiker ist politisch nicht sehr durchsetzungsstark. Auf der Homepage der jungen, basisdemokratischen Piratenpartei findet sich nicht einmal eine Position zur Euro-Krise. Somit bestimmen die etablierten Parteien die Regeln. Das Ergebnis ist dünn: eine Prämie für Mütter, die zuhause ihre Kinder betreuen, und eventuell bald eine Frauenquote für Dax-Konzern-Vorstände statt eines breiten Mentalitätswandels in der Wirtschaft. Was die 30-Jährigen brauchen, ist Mut: Mut, eine Stimme zu finden, eine Entscheidung zu treffen und dafür einzutreten (statt fortzulaufen). Denn ohne angemessene Einkommen, ohne berufliche Sicherheit werden sie weder die Schar zukünftiger Rentner tragen können noch die Kinder, die sich dieses Land wünscht. Letztlich sind sie sich diesen Mut auch selbst schuldig.

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