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Augsburg: Das Wunder der verlorenen Brüder

Augsburg

Das Wunder der verlorenen Brüder

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    Die Lourdes-Grotte in Mittenwald ist für Willi (links) und Alfons Gerlach ein besonderer Ort. Dort eine Andacht für die Geschwister statt.
    Die Lourdes-Grotte in Mittenwald ist für Willi (links) und Alfons Gerlach ein besonderer Ort. Dort eine Andacht für die Geschwister statt. Foto: Bernhard Weizenegger

    Anton. Willi. Elfriede. Lotte. Alfons Gerlach überlegt. „Es waren Anton, Willi, Elfriede, Lotte, und...“ Nein, keine Chance. Alfons Gerlach bricht ab. Die Namen seiner sieben anderen Geschwister, sie wollen ihm einfach nicht mehr einfallen. „Wie denn auch? Wir kannten uns ja nicht einmal“, sagt er dann. Keine Erinnerung, keine Bilder, keine Namen. „Nur den Willi, den kann ich jetzt noch kennenlernen.“ Er lächelt. „Ein Wunder.“

    Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass sich Alfons und Willi zum ersten Mal begegnet sind. Zum ersten Mal nach 62 Jahren. Es ist das „Wunder“, von dem Alfons Gerlach so gerne erzählt, wenn er seinen Bruder sieht. „Was heißt Bruder, der Willi halt“, sagt er dann und lacht. Das Wort Bruder will Alfons einfach noch nicht so richtig über die Lippen kommen. „Das muss erst noch wachsen.“ Zu viel ist passiert. Und überhaupt: Wer hätte schon ahnen können, dass sie sich noch einmal wiedersehen – jetzt, nach all den Jahren.

    Die Geschichte von Willi und Alfons Gerlach beginnt in Augsburg

    Willi und Alfons Gerlach sitzen in einer rustikal eingerichteten Stube in einem Gasthof in Mittenwald. Der eine nippt an einem Tässchen Kaffee, der andere hat die Hände in den Schoß gelegt. „Der Willi, der trinkt nicht so gerne Kaffee“, erklärt Alfons. Es ist das zweite Mal, dass sich die beiden sehen – und die Kulisse könnte kaum schöner sein für so ein Treffen mit verloren geglaubten Brüdern.

    Mittenwald ist eine Gemeinde am Fuße des Karwendels im oberbayerischen Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Ein verschlafenes Idyll, umringt von Felswänden, grünen Wiesen und hohen Bergen. Alfons, hat hier seinen Dienst bei der Bundeswehr abgeleistet und in dieser Zeit seine Ehefrau Inge kennengelernt. „Es könnte kein schöneres Zuhause geben“, findet er. „Ja ja, der Alfons, der liebt seine Berge und seine Freiheit“, sagt Willi. Alfons lacht. „Das merkt man schnell“, schiebt Willi hinterher. Auf dem Tisch stehen selbst gemachte Plätzchen und ein Gesteck aus Tannenzweigen und kleinen roten Christbaumkugeln. Das Licht einer Kerze hüllt den Raum in ein sanftes Licht. Weihnachtszeit.

    „Wenn mir vor einem Jahr jemand erzählt hätte, dass ich Weihnachten mit Willi hier sitze, ich hätte ihn für verrückt erklärt“, sagt Alfons. Verrückt also. Aber so ist es nun einmal, das Leben. Es schreibt verrückte Geschichten.

    Die Geschichte von Willi und Alfons Gerlach beginnt in Augsburg. Dort sind die Brüder geboren. Willi 1937, Alfons 1938 – als Kinder einer Frau, die in der Zeit des Nationalsozialismus als „asozial“ galt. Anna Gerlach hatte zwölf Kinder, war alleinstehend und arm. Eine „Berufsverbrecherin“, so die Meinung der Nazis. 1942 kam sie deshalb in das Frauen-Konzentrationslager in Ravensbrück. Und die gemeinsame Kindheit von Willi und Alfons endete, bevor sie richtig beginnen konnte.

    Zusammen mit ihren zehn Geschwistern werden die Buben 1939 ins katholische Waisenhaus in Augsburg gebracht, dort nach Alter und Geschlecht getrennt und in unterschiedliche Gruppen gesteckt. Kurze Zeit später wurde Willi in eine Pflegefamilie gebracht. Vom Schicksal ihrer Mutter und ihren Geschwistern sollten sie erst 62 Jahre später erfahren.

    „Eine Schwester im Waisenhaus erzählte mir irgendwann einmal, dass wir eine Familie mit zwölf Kindern waren“, erinnert sich Alfons. „Wirklich gekannt habe ich sie aber nie.“ Keine Namen, keine Bilder, kaum Erinnerung. Bis heute.

    Sechs Jahre lang suchte eine Organisation nach Verwandten von Alfons

    Wer Willi und Alfons Gerlach zum ersten Mal sieht, würde nicht denken, dass sie Geschwister sind. Alfons, 76, braune Augen, sportliche Figur, spricht laut und schnell und schiebt fast allen seinen Sätzen ein Lächeln hinterher. Sein Bruder Willi ist 77, hat blaue Augen und einen leichten Bauchansatz. Er spricht langsamer und bedächtiger – und es dauert ein wenig, bis er erzählt.

    „Dass wir uns überhaupt noch einmal sehen konnten, haben wir einer Freundin vom Alfons zu verdanken“, sagt Willi. Bärbel Ostler ist selbst Mittenwalderin und Besitzerin des Gasthofs, in dem die Brüder nun sitzen. „Wir selbst hätten vermutlich nicht mehr nacheinander gesucht. Wie denn auch? Ohne Anhaltspunkte“, sagt er. Und Alfons: „Ich kannte meine Geschwister ja nie, wie hätten sie mir dann fehlen können?“ Für einen kurzen Moment verschwindet das Lächeln aus seinem Gesicht. „Nur die Geschichte der Mama, die hat mich nie losgelassen.“ Und dann war da ja auch noch der Tod seiner Frau.

    Es ist das Jahr 2008, als Alfons’ Ehefrau Inge plötzlich stirbt und seine Sehnsucht nach Gewissheit über die eigenen Wurzeln wieder größer wird. „Die Bärbel wusste das und hat einen Suchdienst eingeschaltet“, sagt er. Sechs Jahre lang suchte der International Tracing Service nach Verwandten von Alfons. Bis zu der Begegnung im Mai dieses Jahres.

    Denn was Alfons Gerlach bis dahin nicht wusste: Die Suche hatte Erfolg. Dem Tracing Service war es gelungen, Willi Gerlach als den offenbar noch einzigen lebenden Bruder in Erlangen zu finden. „Und selbst das war nicht so einfach“, sagt Willi. Denn anders als sein Bruder war Willi nicht bis zur Ausbildung im Waisenhaus geblieben, sondern hatte seine Kindheit in mehreren Pflegefamilien verbracht. „Zwischenzeitlich trug ich sogar den Nachnamen Wimmer“, erzählt er.

    Später verlor sich Willis Spur im Ausland. „Ich war viel unterwegs, wollte nirgends so richtig lange bleiben“, sagt Willi. „Bis ich meine heutige Ex-Frau kennengelernt habe.“ Willi bleibt in Erlangen.

    Ohne Alfons etwas zu sagen, kann Bärbel Ostler ein Treffen der beiden Brüder organisieren. Am 5. Mai – Alfons weiß es noch ganz genau – lockte sie ihn unter einem Vorwand in den Gasthof Alpenrose. Und es dauerte einen Moment, bis er realisierte, wer da vor ihm stand. Denn erkannt hätten sich die beiden Brüder nicht mehr. Zu viel war inzwischen passiert.

    Willi Gerlach: „Es war wie ein Freudenschock"

    „Wir hatten ja nur die Bilder von uns als Kinder im Kopf“, sagt Alfons. „Es war wie ein Freudenschock. Wir waren beide sprachlos“, sagt Willi. Und die Erfahrung, plötzlich einen Bruder wiedergefunden zu haben? Alfons überlegt. „Es war schön“, sagt er dann.

    Viel Zeit, miteinander zu reden und sich besser kennenzulernen, blieb den Brüdern an diesem Tag allerdings nicht. „Umso schöner ist es deshalb, dass wir jetzt wieder zusammensitzen“, sagt Alfons.

    Es ist dunkel geworden in Mittenwald und Regen prasselt gegen die Fenster. „Eigentlich sollte es doch längst schneien“, sagt Willi. Er schaut seinen Bruder an. „Weißt du noch, dass unser Waisenhaus nach dem Angriff 1944 total zerbombt war?“, fragt er dann. „Es war eisig kalt und wir standen mit kaputten Schuhen im Schnee.“ Alfons lacht. „Gott sei Dank haben uns wenigstens die Schwestern ordentlich Dampf gemacht und uns in unsere Notunterkünfte getrieben“, sagt er.

    Dass ein Großteil der zehn Geschwister in dieser Nacht ums Leben gekommen war, das wissen die Brüder jetzt. Auch, dass die Mutter das Konzentrationslager in Ravensbrück nicht mehr verlassen konnte. „Es mag nicht die erfreulichste Nachricht gewesen sein, aber wir haben jetzt Gewissheit“, sagt Alfons.

    Anton, Willi, Elfriede, Lotte und Alfons Gerlach – sie alle überlebten den Krieg, drei von ihnen sind aber inzwischen gestorben. „Nur den Willi, den kann ich jetzt noch kennenlernen“, sagt Alfons. Es klingt nicht traurig, wenn er das sagt – vielmehr wie ein Wunder.

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