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Unser 1. Tag: Kriegshaber, die Erzählung beginnt

Unser 1. Tag

Kriegshaber, die Erzählung beginnt

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    Kriegshaber, die Erzählung beginnt
    Kriegshaber, die Erzählung beginnt

    Es ist wieder so ein Anfang: Wir laden Stühle, Kühlbox, Sonnenschirme und unseren Schreibtisch aus dem Bus, wir legen die leeren Schreibblöcke bereit. Und wissen nicht, was kommt, wer kommt, was am Abend alles auf den Seiten stehen wird. Welche Namen, welche Erzählungen. 35 Grad, der Sommer meint es gut, Kriegshaber also, der Platz vor dem alten Tram-Depot an der Ulmer Straße. „Ich bin der Manfred“, sagt der Mann, der gerade die historische Straßenbahn, Baujahr 1948, neben unseren Schreibtisch rangiert hat. Das ist unser Regenquartier, für alle Fälle.

    Der Manfred, das ist Manfred Steger, Fahrdienstleiter bei den Stadtwerken. Er betreut heute die Tram – für den Fall der Fälle. Erste Notiz: Guter Typ. Es trifft sich gut, dass Silvano Tuiach in diesem Moment vorbeischaut – denn die beiden werden nächsten Dienstag in der alten Tram durch Kriegshaber fahren. Der Kabarettist und Autor Tuiach wird unseren Gästen seine Sicht auf diesen Stadtteil vermitteln. Das Mandat dazu hat er: 23 Jahre wohnte er in Kriegshaber. Als er wegzog, waren die Amerikaner noch da. Aber nicht mehr lange …

    Früher hatte Kriegshaber die Form einer Acht

    Alle Schattenplätze belegt. Jetzt ist auch Wilfried Matzke da, Chef des Geodatenamtes. Er erzählt, dass Kriegshaber früher die Form einer Acht hatte. Er hat zwei Stadtpläne dabei, einen historischen und einen aktuellen. Man sieht, dass der Stadtteil im Lauf der 100 Jahre gewachsen ist. Eine Broschüre taucht an unserem Schreibtisch auf. „Reinöhlstraße“ steht drauf, genau so geschrieben und ja nicht Rheinölstraße, wie man es eigentlich vermuten würde. Was steckt dahinter? Monika Reisinger weiß es. Sie hat die Broschüre für die Straße verfasst, in der sie nun seit Jahren lebt. „Ich bin Historikerin.“ Den Namen bekam die Straße im Zuge der Eingemeindung 1916, steht in der Broschüre, sie ist 980 Meter lang, sie hieß vor 1916 Exerzierplatzstraße, wurde jedoch auch häufig als Pferseer Straße bezeichnet. Und jetzt kommt es: „Die Namensgeber waren Ludwig und Emma Reinöhl.“ Die Professorenwitwe hatte zum Gedenken ihres gefallenen Sohns eine Stiftung für erwerbsunfähige Kriegsinvaliden nach dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen. Als Stifterin wurde ihr Name auf der Straße verewigt.

    Wo wir schon einmal bei den Straßennamen sind – „Warum heißt die Luther-King-Straße nicht Martin-Luther-King-Straße?“, wird Wilfried Matzke gefragt. Auch darauf hat er eine – durchaus überraschende – Antwort. Es lag nicht an Nachlässigkeit. Man habe einen vierteiligen Straßennamen vermeiden wollen und man habe vermeiden wollen, dass der Straßenname zu lang werde. Das könne Probleme bei Online-Formularen geben. „Und die Bürgermeister-Ackermann-Straße?“ oder die „Oberbürgermeister-Dreifuß-Straße?“ – tja, sagt Matzke, benannt in einer Zeit, als noch niemand an Internet-Formulare dachte.

    Ein Mann mit Schirmmütze fotografiert unsere alte Tram, er steigt in den Wagen, fotografiert, er umkreist die Straßenbahn, fotografiert, bevor er schließlich an unserem Schreibtisch Platz nimmt. „Haben Sie viele Bilder von hier?“ Otto Prem lächelt und schaut dabei ein wenig traurig: „Ich hätte mehr machen sollen, ich habe von Kriegshaber so gut wie nichts.“ Damals, als junger Bursche, als die Panzerkolonnen der Amerikaner an seinem Kinderzimmer vorbeirasselten, als er einen Logenplatz hatte, da hätte er … „Aber ich hatte nicht das Geld für Filme“, meint Otto Prem, Jahrgang 1966. Aber jetzt, jetzt kann er doch Bilder machen, Kriegshaber dokumentieren. Die Panzer sind weg, aber es verändert sich doch auch jetzt so viel in diesem Stadtteil, die Bebauung der alten US-Kasernengelände, das Uni-Klinikum ... „Ach, es verändert sich, ja, aber nicht zum Guten“, sagt Otto Prem. Das reizt ihn nicht mehr, diese weißen Einheitswürfel, die sie jetzt überall bauten, „Hasenställe“ nennt er sie. Warum so was fotografieren?

    Otto Prem, der Fotograf der nicht fotografierten Vergangenheit Kriegshabers, beschwört die Bilder seiner Kindheit und Jugend. Die Amerikaner prägen darin das Straßenbild. Seit sie 1996 abgezogen sind, fehlt etwas, sagt er. Er nennt es „Way of life“ und meint damit: „Es war legerer alles, nicht so spießig. Die Straßenkreuzer, die Typen ...“ An Weihnachten spazierte Prem gerne durch Centerville, ein Wohngebiet der Amerikaner, und bewunderte die Weihnachtsbeleuchtung dort. „Es ärgert mich, ich hätte das alles fotografieren sollen …“

    Der Ureinwohner von Kriegshaber stellt sich vor

    Es reden jetzt viele Leute gleichzeitig. Alle Stühle auf dem Platz vorm Tram-Depot sind belegt. Gesprächsfetzen. „Halloween haben wir wegen der Amerikaner schon gefeiert, da kannte das sonst keiner“ – „In der NRK gab’s den größten Veranstaltungssaal von Augsburg“ – „Wir warten sehnsüchtig auf den Supermarkt“  … Jemand hat sich nebenan ein Pils geordert, im Café Link, es wird am Schreibtisch serviert. Birgit Ritter hat Erdbeeren mitgebracht, Karen Martin-Lehmann und Detlef Martin haben Eiswürfel und Eis dabei, Bernhard Radinger einen Aktenordner. Er stellt sich als „Ureinwohner von Kriegshaber“ vor – uns. Den meisten Gästen am Schreibtisch ist der Radinger hingegen gut bekannt, wie sich herausstellt. Denn Bernhard Radinger ist so etwas wie das Gedächtnis von Kriegshaber, das Archiv des Stadtteils. Radinger hat in Klarsichthüllen, was Otto Prem nur als Bilder im Kopf hat: jede Menge Fotos aus allen Jahrzehnten.

    Zum Beispiel diese Dias, die vor einiger Zeit im Pfarrhaus wieder aufgetaucht sind. „Da gab’s einen Kaplan, der hat schon in den 1930er Jahren Dias gemacht, der hat viel in Kriegshaber umeinanderfotografiert“, sagt Radinger, geboren 1948 in Kriegshaber. Während er eine Zigarette raucht, stellt der Ureinwohner fest, dass es schwierig sei, mit den Neubürgern in Kontakt zu kommen. „Alle diese hellen Klötze im Reese-Park, teuer, ich glaube, da ist viel in Münchner Hand“, meint Bernhard Radinger.

    Aber es gibt auch etliche denkmalgeschützte Gebäude in Kriegshaber, etwa das alte Tram-Depot, vor dem wir sitzen. Monika Reisinger erzählt, dass ihr Sohn in einem Schulprojekt ein kleines Büchlein über die geschützten Gebäude erstellt habe. „Das Gelbe?“, mischt sich Bernhard Radinger ein. „Hab’ ich auch.“

    So vergeht unser erster Nachmittag an der Ulmer Straße in Kriegshaber. Die Straßenbahnlinie 2 lässt im Acht-Minuten-Takt die Erde beben, die Sonne verschwindet hinter einem Haus. An unserem Schreibtisch sprechen wir über Musik. Gerald Fiebig, der Leiter des Kulturhauses Abraxas, der sich für unseren Auftakt Zeit genommen hat, erzählt, dass sich die Szene in kaum einem anderen Stadtteil von Augsburg so ballen würde. „Wir haben das Spectrum, die Kantine, das Kulturhaus Abraxas und im Kulturpark West proben 1500 Musiker.“

    Musik von Dilettanten und von richtig guten Leuten

    Da fällt Detlef Martin ein, wie das dort hinten auf dem ehemaligen Kasernenareal war, bevor es den Kulturpark West gab. „Ich bin mit meinem Taxiunternehmen dort hingezogen. Wenn wir standen und gewartet haben, kam von allen Seiten Musik, von Dilettanten, aber auch von richtig guten Leuten.“ – „Mein Sohn hatte dort mal einen Probenraum“, erzählt Angelika Probst. Sie ist für uns eine alte Bekannte, weil sie uns auch schon an unserem mobilen Schreibtisch in der Kulturstraße und in der Hochfeldstraße besucht hat.

    Am Ende des ersten Nachmittags sind wir schon gespannt, wie es die nächsten fünf Dienstage weitergehen wird. Das erste Mal würden wir uns sogar ein wenig über ein bisschen Regen freuen: Dann könnten wir in die alte Tram, unser Schlechtwetter-Quartier, ausweichen. Was für ein wunderbarer Ort.

    Der letzte Gast an diesem heißen Sommertag in Kriegshaber ist ein Eichhörnchen. Es schnappt sich eine Erdbeere, die unter den Schreibtisch gerollt war. Es gibt davon kein Foto, aber wir erzählen es gerne.

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