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Interview: IG-Metall-Vize: "Bezahlte Auszeiten, um Angehörige zu pflegen“

Interview

IG-Metall-Vize: "Bezahlte Auszeiten, um Angehörige zu pflegen“

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    Fordert mehr Flexibilität von den Firmen – zugunsten der Mitarbeiter: IG-Metall-Vize Hofmann.
    Fordert mehr Flexibilität von den Firmen – zugunsten der Mitarbeiter: IG-Metall-Vize Hofmann. Foto: Franziska Kraufmann, dpa

    Die IG Metall hat sich nach der Ära Berthold Huber an der Spitze neu aufgestellt. Detlef Wetzel führt nun die mächtigste Gewerkschaft Deutschlands, die es geschafft hat, wieder mehr Mitglieder zu gewinnen, nachdem jahrelang Verluste zu Buche standen. Zuletzt waren 2,27 Millionen Menschen in der IG Metall organisiert, was im dritten Jahr in Folge ein Plus darstellt. Zentrale Aufgabe der Gewerkschaft ist die Tarifpolitik, die Domäne des IG-Vizes. In diese Rolle ist Jörg Hofmann geschlüpft. Der einstige baden-württembergische IG-Metall-Chef hat in seiner Heimat viele Abschlüsse ausgehandelt, die bundesweit übernommen wurden.

    Herr Hofmann, warum geht es bei Tarifkonflikten nicht ohne theatralisches Getöse ab? Sind Warnstreiks und Verhandlungen bis zum Morgengrauen wirklich unverzichtbar? Weihen Sie uns in die Geheimwissenschaft ein.

    Es gibt keine Geheimnisse. Es geht nur um sehr viel Geld. Ein Prozent Lohnerhöhung in der deutschen Metall- und Elektroindustrie machen insgesamt rund 1,8 Milliarden Euro aus. Und bei uns geht es erfreulicherweise um Lohnerhöhungen von mehreren Prozenten. Am 1. Mai gab es noch einmal 2,2 Prozent. Im vergangenen Jahr stiegen die Löhne ja schon um 3,4 Prozent. Sie werden in der Wirtschaft keinen Entscheidungsprozess finden, der angesichts eines so hohen Betrages vergleichsweise schnell funktioniert wie eine Tarifrunde. Ich nehme Wetten an. Nur ein Vergleich: Wie viele Jahre wurde um Stuttgart 21 diskutiert? Da geht es um rund fünf Milliarden.

    Sie sind mit einer Portugiesin verheiratet, die Sie während Ihres Studiums in Frankreich kennengelernt haben. Mit Ihrer Frau sprechen Sie Französisch, sind also ein echtes europäisches Paar. Was empfinden Sie angesichts der Tatsache, dass europakritische Parteien wie die AfD vor dem Einzug in das Europaparlament stehen?

    Das Schlimme ist, dass es zwei Formen des Protestes gegen Europa gibt. Einerseits wenden sich die Menschen enttäuscht von Europa ab und gehen gar nicht zur Wahl, andererseits wählen sie Parteien am rechten Rand wie die deutsche AfD. Letztere gaukeln den Menschen Alternativen vor, die keine sind. Sie handeln – und das werfe ich den Professörchen der AfD vor – gegen eigenes besseres Wissen.

    Warum das denn?

    Ein Ausstieg aus dem Euro würde einen Rückfall in die nationalstaatlichen Strukturen nach sich ziehen. Der Euro war nicht alternativlos in seiner Einführung. Er ist aber inzwischen, zwölf Jahre nach seiner Einführung, alternativlos zur Fortführung des europäischen Projektes. Geschichte, das sollten die AfD-Leute eigentlich wissen, kann man nur bedingt revidieren. Außerdem ist die deutsche Exportwirtschaft stark auf den europäischen Heimatmarkt angewiesen. Die von der AfD geführte Ausstiegsdebatte aus dem Euro ist also rein fiktiv.

    Und was denken Sie, wenn Sie den früheren Industriepräsidenten Hans-Olaf Henkel als AfD-Wahlkämpfer erleben?

    AfD-Politiker wie Hans-Olaf Henkel schüren Vorurteile. Für Henkel gilt die Devise: je oller, je doller. Diese selbst ernannten Eliten mit Schmiss sind die Dinosaurier des spätestens mit der Krise widerlegten Neoliberalismus. Letztlich argumentiert der einstige Industrie-Vertreter Henkel arbeitgeberfeindlich, profitieren die Unternehmen doch vom Euro.

    Hier spricht der Diplom-Ökonom Jörg Hofmann. Vor Ihrem Studium haben Sie in der Landwirtschaft Erfahrungen gesammelt. Wie war das?

    Ich war auf einem der ersten Biohöfe Deutschlands. Und in meiner Familie gibt es Landwirte. Aber immer die Brennnessel-Brühe anrühren und Kartoffelkäfer aufklauben, das war doch nicht das, was ich mir für mein ganzes Leben vorgestellt habe. So habe ich in Stuttgart, Paris und Bremen studiert.

    Sie warnen, die duale Ausbildung als Kombination von Lehre und überbetrieblicher Schulung sei gefährdet. Studieren zu viele Jugendliche?

    Auf alle Fälle zeigen die hohen Studienabbrecher-Zahlen, dass nicht alle glücklich mit ihrer Zeit an einer Hochschule sind. Heute dominiert der gesellschaftliche Zeitgeist, dass nicht mehr die berufliche Ausbildung, sondern das Studium des Glückes Schmied für einen jungen Menschen ist. Das führt dazu, dass es in einigen Berufen selbst in Süddeutschland nicht mehr ortsnah entsprechende Berufsschulklassen gibt. Die Jugendlichen müssen lange fahren. Das spricht sich herum und führt zu noch weniger Bewerbern. So setzt eine Spirale nach unten ein, die gegen die duale Ausbildung läuft.

    Wie lässt sich der Teufelskreislauf durchbrechen?

    Die duale Ausbildung muss sich neu erfinden. Sie muss noch mehr Einstieg zum Aufstieg sein, ohne die Qualität zu verlieren, allen Jugendlichen einen Berufsabschluss zu ermöglichen. Man muss etwa die Angebote, nach der Lehre ein Studium zu machen, ausbauen und so mehr Jugendliche für eine Ausbildung gewinnen.

    Junge Menschen schrecken vor so einem Schritt zurück, weil sie nach der Lehre eine Familie gründen wollen und sich das Studium finanziell nicht leisten können. Was ist hier zu tun?

    Ich schlage vor, eine Qualifizierungs- und Bildungsteilzeit einzuführen. Ein Beispiel: Nach Ende seiner Lehre macht ein junger Mann eine Bildungsteilzeit. Dabei arbeitet er für seinen Betrieb zwei Jahre voll weiter und zwei Jahre ist er für die Weiterbildung bei fortlaufendem Gehalt komplett freigestellt. Das könnte man tarifvertraglich festlegen, um Menschen eine reale Chance auf eine zweite Ausbildung im Leben zu geben.

    Sie fordern auch die Möglichkeit einer 30-Stunden-Woche für Beschäftigte, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Die Arbeitgeber sträuben sich dagegen und verweisen auf Teilzeit-Angebote. Reichen diese nicht aus?

    Sie reichen nicht aus. Unsere große Beschäftigten-Befragung innerhalb der IG Metall, an der sich mehr als 500 000 Menschen beteiligt haben, hat ergeben, dass jeder Zehnte berichtet, dass er einen Pflegefall in seiner Familie hat. Die Beschäftigten brauchen hier mehr Souveränität über ihre Zeit, um etwa die Oma pflegen zu können, schließlich werden wir keine Betriebspflege-Einrichtungen analog zu den Betriebskindergärten bekommen.

    Wie wollen Sie das durchsetzen?

    Das darf nicht zu einem Bettelgang für die Beschäftigten führen. Sie brauchen einen Anspruch. Wenn Sie auf Teilzeit gehen und 17,5 Stunden arbeiten, reicht ihnen das Geld nicht. Hier kommt das IG-Metall-Modell der reduzierten Vollzeit ins Spiel. Da bleibt einfach mal ein Nachmittag arbeitsfrei, an dem man die Oma etwa zum Arzt bringen kann. Natürlich müssen die Beschäftigten das Recht haben, wieder auf ihre Vollzeit-Stelle, also die 35-Stunden-Woche in unserer Branche, zurückzukehren. Teilzeitarbeit ist auch deshalb keine Lösung, weil es einen faktisch vor einem weiteren beruflichen Aufstieg ausschließt.

    Werden all Ihre Pläne umgesetzt, wird das teuer für die Arbeitgeber. Deswegen wehren sie sich dagegen.

    Ich will es mal so sagen: Das Thema, wie Unternehmen mit Mitarbeitern umgehen, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen, entscheidet künftig über die Attraktivität von Arbeitgebern. Und das vor allem auch deswegen, weil qualifizierte Mitarbeiter in Deutschland durch den demografischen Wandel hin zu einer immer älteren Bevölkerung weniger werden. Firmen müssen sich mehr anstrengen, um dieses Gut zu bekommen.

    Das Arbeitsleben muss also noch flexibler werden?

    Wir brauchen generell flexiblere Modelle im Arbeitsleben, auch wenn es um das Ende des Berufes und den Übergang in die Rente geht. Die Beschäftigten haben, was Flexibilität betrifft, hier schon ein hohes Maß an Beweglichkeit bewiesen. Jetzt müssen endlich die Unternehmer flexibler werden. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulasten der Beschäftigten sein. Diese Straße muss zumindest mit einer Gegenspur mit tarifvertraglich verankerten Ansprüchen auf Qualifizierung und Familienzeiten ausgestattet werden.

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