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Missbrauchsgutachten: Papst Benedikt war zeitweise Beschuldigter

Kirche

"Giftschrank", Razzia, Erinnerungslücken: Die Ergebnisse der Missbrauchsermittlungen

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    Das Interesse an der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft München I am Dienstagvormittag war groß.
    Das Interesse an der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft München I am Dienstagvormittag war groß. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Seit Dienstagvormittag weiß man mit Gewissheit: Es gab einen als Geheimarchiv dienenden Tresor im Erzbischöflichen Palais in München. Zudem einen „Giftschrank“, der 2011 aufgelöst wurde. Man weiß, dass es im Februar eine Durchsuchung gab und Erzbischof Reinhard Kardinal Marx als Zeuge vernommen wurde. Dass dessen heute 95-jähriger Vorgänger Friedrich Wetter, Joseph Ratzinger – der spätere, inzwischen gestorbene Papst Benedikt XVI. – sowie der frühere Generalvikar Gerhard Gruber (1928 geboren, von 1968 bis 1990 im Amt) als Beschuldigte geführt wurden. Und man weiß: Alle Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, unter anderem wegen Verjährung. Bei Marx, Lorenz Wolf, einst Leiter des Kirchengerichts, und Peter Beer, einst Generalvikar, wurden keine Anhaltspunkte für strafrechtlich relevantes Verhalten gefunden. 

    Missbrauch in der Kirche: Ergebnisse des Münchner Missbrauchgutachtens

    Bereits vor der mit Spannung erwarteten Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft München I war Beobachtern klar, dass nicht mit spektakulären Ergebnissen zu rechnen sein würde. Manch einer hatte sich ja schon einen Bischof in Handschellen vorgestellt. Und doch fügten die Ausführungen jenen der Gutachter der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) jede Menge Aufschlussreiches an.

    Der damalige Papst Benedikt XVI. und der damalige Münchner Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter (links) im Jahr 2006.
    Der damalige Papst Benedikt XVI. und der damalige Münchner Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter (links) im Jahr 2006. Foto: Andreas Gebert, dpa

    WSW stellte im Januar 2022 ein Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München und Freising vor. Demnach gab es von 1945 bis 2019 mindestens 497 Missbrauchsopfer und 235 Täter. Im August 2021 hatten die Gutachter der Staatsanwaltschaft Fälle zur Prüfung anonymisiert übergeben, die „noch lebende kirchliche Leitungsverantwortliche betreffen“.

    Nach einer Sichtung blieben 45 „Vorgänge“ übrig. Die Staatsanwaltschaft sah sie sich insbesondere darauf hin an, „ob ein kirchlicher Verantwortungsträger durch eine Personalentscheidung Beihilfe zu einer später begangenen, noch nicht verjährten Missbrauchstat eines Priesters geleistet haben könnte“. Für lediglich sechs im Gutachten aufgeführte Fälle bejahte die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht.

    Etwa bei „Fall 26“. Bei dem fand sie Anhaltspunkte für mindestens zwei noch nicht verjährte Haupttaten. „Fall 26“ nimmt im WSW-Gutachten sechs Seiten ein. Es geht um einen Priester, der 1962 wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde. Später war er Krankenhausseelsorger in Rosenheim. Anfang der 2000er Jahre wurde ihm eine „zu intensive Nähebeziehung zu den Krankenhausministranten“ vorgeworfen. Der damalige Erzbischof Wetter soll laut Gutachten von der Vorgeschichte des Priesters gewusst, Kinder dennoch nicht vor ihm geschützt haben.

    Ermittlungen zu sexuellem Missbrauch: "Uneingeschränkte Kooperation" im Erzbistum

    Im Zuge der Zeugenvernehmungen hörten die Ermittler dann von einem „Giftschrank“ mit möglicherweise brisanten Unterlagen. Dies begründete die Durchsuchung von Erzbischöflichem Palais und Ordinariat. „Verfahrensrelevante Unterlagen“ seien nicht gefunden worden, hieß es nun. Wetter wurde als Beschuldigter vernommen. Er habe angegeben, „keine konkrete Erinnerung“ zu haben. Letztlich hätten die Ermittlungen keine Nachweise für ein strafrechtliches Handeln ergeben, ebenfalls habe ihm keine Kenntnis der Vorgeschichte des Priesters nachgewiesen werden können.

    Der Leitende Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst erklärte am Dienstag zum Vorwurf an die Justiz, sie würde die Kirche mit Samthandschuhen anfassen, hierfür fehlten stichhaltige Belege. Die Kirche besitze keine strafrechtlichen Sonderrechte, und die Durchsuchung sei weder eine Demonstration von Härte noch ein politisches Signal gewesen. Er betonte, dass das Handeln des Erzbistums während der gesamten Untersuchungen von „uneingeschränkter Kooperation“ geprägt und von „unbedingtem Aufklärungswillen“ getragen gewesen sei. Zur Tatsache, dass ein erstes Gutachten von WSW von 2010, das aus datenschutzrechtlichen Gründen nie veröffentlicht worden war, erst 2019 geprüft wurde, sagte er: Die damals zuständigen Kolleginnen und Kollegen seien längst nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft „und haben auch keine konkreten Erinnerungen“ daran. Aus heutiger Sicht wäre es aber besser gewesen, hätte man das Gutachten schon damals erhalten. Strafrechtlich hätte das „zu keinen wesentlich anderen Ergebnissen“ geführt. Der Rosenheimer Krankenhausseelsorger wurde bereits im ersten Gutachten "vage" erwähnt, er starb 2018. 

    Christian Weisner von der katholischen Reformbewegung „Wir sind Kirche“ sagte unserer Redaktion: In der Vergangenheit habe die Staatsanwaltschaft gegenüber kirchlichen Verantwortungsträgern möglicherweise nicht immer in dem Maße ermittelt, wie es notwendig gewesen wäre. Für Missbrauchsbetroffene seien die jetzt vorgestellten Erkenntnisse „sehr enttäuschend“. Doch die moralische Verantwortung gerade für die Kirche und ihre Verantwortlichen verjähre nicht.

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