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Foto: Silvio Wyszengrad
Foto: Silvio Wyszengrad

Heute lernen die Kinder mit Lehrerin Sabine Huss-Rott das I - wie in "Fisch" und "Igel".

Ukrainische Schüler
28.04.2022

15.000 Kinder aus der Ukraine an Bayerns Schulen: Wie funktioniert das Lernen?

Von Sarah Ritschel

Plus Über 15.000 ukrainische Kinder gehen schon im Freistaat zur Schule. Viele Strukturen aus ihrer Heimat kommen ihnen jetzt zugute. Zu Besuch in einer Willkommensgruppe.

Was die Kinder auf der Flucht erlebt haben, Sabine Huss-Rott weiß es nicht. Sie fragt auch nicht danach. Stattdessen lernen die Schülerinnen und Schüler heute den Buchstaben I. Die Lehrerin klebt mit Magneten Fotos an die Tafel. „Fisch“, sagt sie ganz deutlich. Die Kinder sprechen es ihr nach. Als nächstes: „Iglu.“ Schirm, Pilz, Brille, Lolli. Dienstagnachmittag in der Wittelsbacher Grundschule im Augsburger Antonsviertel. Jeden Tag lernen hier ukrainische Kinder in einer sogenannten Willkommensgruppe, gerade sind es rund ein Dutzend. In ihrer Heimat würden sie die erste bis vierte Jahrgangsstufe besuchen.

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Die Kinder sind gut gelaunt, lachen viel, rufen laut die neuen Wörter durcheinander. Manche sind erst wenige Tage hier. Sie lernen nicht nur ein neues Land gerade erst kennen, sondern auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. „Ich heiße Valentin“, sagt einer der älteren Jungs langsam und wirft einen Stoffball zum Mädchen ihm gegenüber. „Wie heißt du?“

Willkommensgruppe für Kinder aus der Ukraine: Einen Lehrplan gibt es nicht

Die Wände im Klassenzimmer hat Sabine Huss-Rott bewusst leer gelassen – die Kinder sollen den Raum nach und nach zu ihrem eigenen machen. Nur das Willkommensschild mit ganz vielen Herzen drauf hängt schon von Anfang an da – und das Plakat mit dem lateinischen Alphabet in Blau-Gelb.

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Foto: Silvio Wyszengrad
Foto: Silvio Wyszengrad

Das Alphabet ist in Gelb-Blau gedruckt.

Einen Lehrplan gibt es nicht. Ankommen, ein wenig Alltag bieten, erste Kontakte mit der deutschen Sprache: Das sind die Ziele der Willkommensgruppen, von denen es in Bayern mittlerweile 600 gibt. Diese und andere Förderangebote speziell für die Flüchtlingskinder besuchen in Bayern mittlerweile 15.000 Schülerinnen und Schüler, wie Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) am Donnerstag im Landtag berichtete. In Augsburg waren am Donnerstag 442 Kinder aus der Ukraine versorgt - Tendenz stark steigend, heißt es aus dem Schulamt.

An der Wittelsbacher Grundschule haben alle zusammengeholfen, um das Angebot zu stemmen. Das Personal legte Geld zusammen, kaufte den ukrainischen Kindern Schulsachen. Sabine Huss-Rott, die Lehrerin, ist aus dem Ruhestand zurückgekommen, um mit ihnen die Sprache zu lernen. Eine ukrainische Professorin, die mit ihrem Sohn nach Augsburg floh und Deutsch spricht, hat Lernmaterialien ins Ukrainische übersetzt. „Das war ein Glücksfall“, sagt Schulleiterin Iris Samajdar.

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Jeden Donnerstag bietet sie eine Informationsveranstaltung für ukrainische Eltern an, die ihre Kinder neu an die Schule schicken möchten. „Natürlich geht es vor allem ums Deutschlernen, aber den Familien ist auch ganz wichtig, dass die Kinder Unterricht in Englisch haben“, weiß die Rektorin mittlerweile. Außerdem seien ukrainische Schulen in Sachen Digitalisierung sehr weit. „Die Eltern konnten gar nicht glauben, dass wir in Bayern in der Grundschule auf der regulären Stundentafel kein Programmieren anbieten“, meint sie lachend. Jetzt arbeitet sie daran, einen solchen Kurs zu organisieren – auch für die deutschen Schülerinnen und Schüler. Ihr macht es Freude, mit den geflüchteten Kindern zu arbeiten. „Sie sind überraschend stabil, enorm lernbegeistert und fleißig“, sagt Samajdar. „Ich gehe davon aus, dass sie innerhalb von drei bis vier Monaten in eine Regelklasse wechseln können. Das ist aus unserer Sicht auch das Ziel.“

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Foto: Silvio Wyszengrad
Foto: Silvio Wyszengrad

Lernhefte wurden schnell übersetzt und umgestaltet.

In der Willkommensgruppe deutet die Lehrerin auf das Bild des Wasserbewohners. Fast alle Finger schnellen in die Luft: „Fiiiisch!“ Sabine Huss-Rott spricht kein Ukrainisch. Und sie weiß nicht, wie viel die Kinder wirklich verstehen von dem, was sie auf Deutsch erklärt. Und doch haben sie am Ende jeder Doppelstunde etwas gelernt.

Vormittags haben die Schüler aus der Ukraine Digitalunterricht

Die Willkommensgruppe trifft sich am Nachmittag, denn vormittags sitzen viele der Schülerinnen und Schüler im Digitalunterricht mit ihren Lehrkräften aus der Heimat. Eine Lehrerin etwa ist selbst nach Polen geflohen, schaltet sich von dort täglich mit den Kindern zusammen, die der Krieg auf ganz Europa verteilt hat. Nach Augsburg zum Beispiel.

Auch daheim in der Ukraine würden sie jetzt die Grundschule besuchen. Wie in Deutschland werden Kinder dort mit sechs Jahren eingeschult. Eine Trennung nach der vierten Klasse gibt es nicht, die Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam in einer Gesamtschule. Nach der neunten Klasse findet die Prüfung zur mittleren Reife statt, wer das Abitur anstrebt, bleibt zwei Jahre länger auf der Schule. Anders als in Deutschland gibt es ein einheitliches Bildungssystem für das gesamte Land.

Jetzt auf der Flucht kommt den ukrainischen Lehrern und Schülern zugute, dass wegen der Pandemie schon viele Schulbücher und Lehrpläne digitalisiert worden waren. Distanzunterricht ist Alltag für sie. Was die Kinder in der Augsburger Willkommensgruppe noch lernen müssen: dass eine Sechs in Deutschland leider keine gute Note ist. In ihrer Heimat gibt es zwölf Notenstufen – je höher die Zensur, desto besser die Leistung.

Für heute haben die neuen Schülerinnen und Schüler genug gelernt. Gleich dürfen sie in die Leseecke, zusammen mit den Kindern aus der Mittagsbetreuung. Die ersten Freundschaften sind schon entstanden. Und die Betonwand im Klassenzimmer ist auch schon etwas bunter geworden. Die Kinder aus der Ukraine haben Bilder mit Regenbogen gemalt. So sollten sie auf Deutsch die Farben lernen. Aber ein bisschen Hoffnung vermittelt der Anblick auch. Dunkle Wolken sind nur auf einem der Bilder zu sehen.

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