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Foto: Anja Worschech
Foto: Anja Worschech

Bernstein und Hühnergötter sind beliebt unter den Steinesammlern. Und aus Steinen lassen sich auch meditativ Türme bauen.

DDR-Seebad
02.08.2018

Boltenhagen an der Ostsee: Ein Flair von Spanien und Italien

Von Anja Worschech

Das Seeheilbad Boltenhagen ist noch weitgehend unbekannt - aber nicht unentdeckt. Es war einmal das westlichste Seebad in der DDR. Das spürt man manchmal noch.

Der Geruch von Salz und Seegras liegt in der Luft. Der Wind zaust durch die Haare und raschelt durch die gelben Gerstenfelder. Rote Mohnblumen spitzen dazwischen hervor. Schwalben nutzen die Aufwinde der Steilküste und wirbeln durch die Luft.

Das Geschrei der Möwen mischt sich mit dem Rauschen der Wellen. Der Blick von der Steilküste fällt auf einen fünf Kilometer langen feinporigen Sandstrand und Meerwasser mit vielen Blau- und Grüntönen. Diese Szenerie spielt aber nicht etwa in Spanien oder Italien. Es ist Deutschlands eigene Küste.

30 Grad an der Ostsee

Die Ostsee in Boltenhagen in Mecklenburg-Vorpommern ist erstaunlich ruhig an diesem Morgen. Die Segelschiffe verteilen sich wie weiße Stecknadeln am blauen Horizont – dazwischen einige Fischkutter. Die Sonne schiebt sich steil nach oben.

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Foto: Anja Worschech
Foto: Anja Worschech

In der Weißen Wiek – dem Yachthafen Boltenhagens – findet sich der ursprüngliche Fischer-Hafen. Im Restaurant Kamerun kann man den Fisch fangfrisch genießen.

Es wird wieder über 30 Grad heiß an diesem Tag. Ja, auch das gibt es an der Ostsee. Fast immer weht aber eine steife Brise, die die Sommerhitze angenehm macht. Noch ist der Sandstrand leer, aber bald wird dort ein braungebrannter Bauch neben dem anderen liegen und die 1500 Strandkörbe werden belegt sein.

Das Seeheilbad Boltenhagen zwischen Wismar und Lübeck ist noch weitgehend unbekannt – aber nicht unentdeckt. Es ist nur mit dem Auto zu erreichen, da Boltenhagen keinen Bahnhof hat. Seit diesem Frühjahr gibt es immerhin eine vielversprechende Flixbus-Verbindung ab Berlin.

Das Seeheilbad zieht vor allem Familien und ältere Menschen an. Schaut man sich die Zahlen an, ist es beeindruckend, was der kleine Ort stemmt. Auf 2500 Einwohner kommen 10000 Betten. Pro Jahr macht das über 1,5 Millionen Übernachtungen.

Eins ist klar: Boltenhagen besticht nicht durch Rummel und endlose Touristenattraktionen. Hier geht es um die Entschleunigung. Beispielsweise wenn man sich am Strand treiben lässt, um Bernstein zu suchen oder mit dem Rad die Wege zwischen den sanften Hügeln und den grünen Baumalleen erkundet, wenn Familien Sandburgen bauen, Jugendliche Volleyball oder SwinGolf spielen, Seehunde beobachten, zum nächsten Café mit hausgemachten Kuchen und Torten pilgern oder ein leckeres Fischbrötchen vertilgen – alles passiert stressfrei. Aber rund um Boltenhagen gibt es noch viel mehr zu entdecken: Eine Tour zu interessanten Menschen, die viel über ihre Gegend erzählen können.

Was diese fünf Menschen mit "ihrem" Seebad verbindet

Radl-Volker Volker Jakobs, ein schlaksiger Mann mit schütterem Haar, ist eigentlich Biobauer. Nur ein berufliches Standbein haben hier aber die wenigsten. Jakobs ist in der DDR groß geworden, in der Lutherstadt Wittenberg. Seit fast 20 Jahren wohnt der 50-Jährige nun nahe Boltenhagen und nimmt die Besucher als Guide mit zu alten Schauplätzen der DDR-Geschichte.

Damals war Boltenhagen das westlichste Ostseebad. Tausende DDR-Bürger verbrachten hier ihren Urlaub. Vorausgesetzt die Ferienkommission hatte dafür die Genehmigung erteilt. Schon damals war der Strand gut besucht, sagt Jakobs. So mancher DDR-Bürger blickte jedoch sehnsuchtsvoll in den Westen. Nur 20 Kilometer Wasser trennten die Bürger von der lang ersehnten Freiheit.

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Foto: Anja Worschech
Foto: Anja Worschech

Wer mit dem Rad eine Runde dreht, entdeckt viele schöne Plätze. Die Aussicht von der Steilküste reicht von der Lübecker bis zur Wismarer Küste. Mit einem Fernglas sieht man auch die Inseln Fehmarn und Poel.

Es habe einige waghalsige Fluchtversuche über die Ostsee gegeben – mit Luftmatratze und ohne, sagt Jakobs. Manche sind geglückt, andere scheiterten. Auf der 35 Meter hohen Steilküste – übrigens nach der Felsenküste auf Rügen die zweithöchste der Ostseeküste – eröffnet sich ein weitläufiges Panorama von der Wismarer bis zur Lübecker Küste. Ein Blick durch Jakobs’ Fernglas zeigt die markante 290 Meter lange Seebrücke Boltenhagens, die wie eine Zunge in die Ostsee ragt.

Jakobs führt die Radlergruppe vorbei an roten Backstein- und Reetdachhäusern an den Strand im Klützer Winkel. Der Strandabschnitt ist noch völlig ursprünglich und unbebaut. Eine Seltenheit, wenn man sich die restliche Ostseeküste ansieht, sagt Jakobs. Rosa Hecken- und Kartoffelrosen säumen den steinigen Strandabschnitt. An dieser Stelle finden sich sogar noch die Original-Betonplatten aus DDR-Zeiten. „Hier stand früher ein vier Meter hoher Metallzaun, um den Zugang zum Strand abzuriegeln. Die DDR hatte panische Angst, dass die Bürger in den Westen abhauen“, sagt Jakobs. Er blickt auf das Meer hinaus. „Wir können froh sein, dass das vorbei ist.“

Yoga-Susi Morgens, wenn die meisten noch am Frühstückstisch in ihrer Unterkunft sitzen, ist die Lieblingszeit von Susann Schramm, Sie ist Yoga-Lehrerin. Sonnengruß, Krieger, Kobra: Am Strand haben die Übungen ihren ganz eigenen Reiz. Immer wieder muss der Körper das Gleichgewicht finden, weil der Sand wegrutscht. Yoga-Susi ist bekannt im Seeheilbad Boltenhagen. Seit über 20 Jahren bietet sie dort Kurse an und lebt nach Gandhis Grundsatz: „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.“ Ursprünglich kam sie als Krankenschwester in den Ort, doch mit dem Job war sie unzufrieden und wurde Yoga-Lehrerin. Finanziell sei das mit vielen Höhen und Tiefen verbunden gewesen, erzählt das Energiebündel mit den roten Haaren.

Heute ist sie angekommen – zufrieden. An ihrem Handgelenk trägt sie eine Armbanduhr. Auf dem Ziffernblatt sind Yoga-Haltungen statt Zahlen abgebildet. Die Lehre dieser geistigen und körperlichen Übungen ist ihr Leben. Nach dem Kurs setzt sich Yoga-Susi in einen der leeren Strandkörbe. „Ich mache jetzt Urlaub“, sagt sie mit einem Lächeln. Bis zu ihrem nächsten Kurs – in einer Stunde.

Jürgen hat ein Buddelschiff-Museum

Café-Pia Die Kuchen- und Teekultur ist an der Ostsee weit verbreitet. Das Café Lindquist ist ein echter Hingucker. Geht man die Strandpromenade mit den villenartigen Häusern entlang, taucht das nordische Café in eleganten Grautönen zwischen den Kiefern auf. Kein Haus ragt hier über die Baumwipfel hinaus, muss man wissen – eine Regel, die dem Ortsbild gut tut. Selbst das Seehotel Großherzog von Mecklenburg mit seinen 150 Zimmern verschwindet auf diese Weise zwischen Lupinen und Kastanien und fügt sich in das grüne Ensemble ein.

Das große geschwungene Gartentor des Cafés steht offen. Blau-weiß gestreifte Strandkörbe laden zum Verweilen ein. Die Finnin Pia Lindquist hat sich mit ihrem Café in Boltenhagen einen Traum erfüllt. Im Inneren findet sich ein Schwedenofen und Kissen mit blauen Blüten. Nicht nur die Einrichtung ist skandinavisch, auch die Speisekarte. Pia Lindquists finnischer Schokokuchen mit Sahne und Erdbeeren ist ein Hochgenuss. „Das war früher immer unser Geburtstagskuchen“, sagt die 46-Jährige.

250 Buddelschiffe in Handarbeit hergestellt

Und was verschlägt eine Finnin aus dem kühlen Norden ins Seeheilbad Boltenhagen? „Wo die Liebe hinfällt“, sagt die zierliche Blonde mit verschmitztem Grinsen. Ihren Mann hat sie in London kennengelernt. Beide arbeiteten in der Hotellerie und Gastronomie. Die Idee von einem eigenen Café war daher gar nicht so abwegig. Seit der Eröffnung des Cafés vergangenes Jahr hat die zweifache Mutter alle Hände voll zu tun. Hektik kommt bei ihr trotzdem nicht auf. Sie ruht in sich. „Das Café, das bin ich. Es ist das, was ich kann.“

Schiffbauer-Jürgen Mit Können und viel Geduld hat auch das Hobby von Buddelschiffbauer Jürgen Kubatz zu tun. Seit 28 Jahren betreibt der 75-Jährige mit den Lachfalten um den Augen sein Museum in Boltenhagen.

Das Geheimnis der Schiffe in den Flaschen ist das Klapp- und Steckprinzip, verrät der ehemalige Seemann und zerlegt ein Schiff in seine Einzelteile. Dann schiebt er es mit ruhiger Hand durch den dünnen Flaschenhals. Mit einer Schnur richtet er den Mast wieder auf. Mit einer langen Pinzette fährt er in die Flasche hinein und zupft an den Segeln.

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Foto: Anja Worschech
Foto: Anja Worschech

Boltenhagen hat einen fünf Kilometer langen feinporigen Sandstrand. Ein Traum zum Sandburgenbauen, Volleyballspielen oder zum Entspannen im Strandkorb.

Wie er zu diesem Hobby kam? „Ich bin in der Nachkriegszeit groß geworden. Die einen haben mit Panzern gespielt, ich habe Schiffe gebaut.“ Über 250 Flaschen stellt der gelernte Maler in seinem kleinen Ausstellungsraum aus. Darin stecken beeindruckende Flotten und Segelschiffe. Alle hergestellt in mühevoller Handarbeit. Woher die ganzen Flaschen kommen, die er für sein Hobby benötigt? Im Ort kennt man sich, erklärt der Bastler. Wenn in den Restaurants ein besonders edler Tropfen über den Tresen geht, legt man die Buddel für ihn zurück.

Auch Kubatz ist kein Einheimischer. Er stammt aus Berlin und ist „wegen einer Frau“ zum Boltenhägener geworden – so werden hier die Zugereisten genannt, im Gegensatz zu den „echten“ Boltenhagenern. Auf seinem linken Unterarm prangt ein Tattoo von einer Meerjungfrau. Ein Relikt aus seiner Seemanns-Zeit und eine Liebeserklärung. Wenn ihm der Geduldsfaden beim Bau seiner Miniaturschiffe reißt, nimmt er sich einige Minuten Auszeit und spaziert an den Strand. Wasser, so sagt er, beruhige ihn.

Bei Manfred liegt Fischgeruch in der Luft

Räucher-Manfred Eine besondere Verbindung zum Meer hat auch Manfred Ulrich. Der ehemalige Fischer verbrachte früher Stunden auf der See, um Aal, Makrele und Matjes zu fangen. Das Fischen hat er „mit der Muttermilch aufgesogen“ wie er sagt. Der Sonnenaufgang, der Geruch und der Klang des Meeres… Manfred Ulrich gerät ins Schwärmen. Früher war er 35 Jahre als Fischer auf der Ostsee unterwegs. Heute können nur noch die wenigsten vom Fischfang leben – zu restriktiv die Fangquoten, zu schlecht die Preise.

Heute hat er sich auf eine Kunst spezialisiert, die man schon aus mehreren hundert Metern Entfernung riecht. Ulrich gehört zu den drei einzigen Räucherern im Ort. Im seinem Vorgarten qualmt es an diesem Vormittag verdächtig. Fischgeruch liegt in der Luft, der sich sofort auf Haare und Kleidung legt. In drei Öfen lodert das Buchenholzfeuer. Darin hängen 70 Kilogramm Lachs, Heilbutt und Aal. Die Makrelenfilets reibt er gerade mit einer roten Gewürzmischung ein. Manchmal wirft Ulrich noch selbst die Netze aus – Balsam für die Seele. „Könnte ich davon leben, würde ich lieber fischen. Das ist meine Berufung.“

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