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Literatur: Sklaverei und Klassenkampf: Zadie Smiths schonungsloser Blick auf die Vergangenheit

Literatur

Sklaverei und Klassenkampf: Zadie Smiths schonungsloser Blick auf die Vergangenheit

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    Die britische Bestsellerautorin Zadie Smith legt einen historischen Roman vor, der viele aktuelle Bezüge hat.
    Die britische Bestsellerautorin Zadie Smith legt einen historischen Roman vor, der viele aktuelle Bezüge hat. Foto: Fabian Sommer, dpa

    Nach einem Schiffsunglück gilt der wohlhabende Roger Tichborne als verschollen. Jahre später taucht plötzlich ein Mann auf und behauptet, eben jener reiche Gentleman zu sein. Als er dann auch noch Anspruch auf dessen Besitz erhebt, muss er sich vor Gericht verantworten. Denn der pausbäckige Metzger aus einem Londoner Elendsviertel ist offensichtlich ein Hochstapler.

    Betrug, Erbschleicherei, Identitätsdiebstahl – die britische Boulevardpresse stürzt sich auf den Fall, stilisiert ihn zum Kampf zwischen Arm und Reich, und die Öffentlichkeit fiebert mit. Viele solidarisieren sich mit dem Scharlatan, denn sie sehen in ihm einen Rebellen gegen die bestehenden Machtverhältnisse. 

    Ein Prozess, den es tatsöächlich gab

    Der Tichborne-Prozess hat sich tatsächlich so ereignet, im London der 1870er Jahre. Bester Stoff also für Zadie Smith, um daraus ihren ersten historischen Roman zu basteln. „Betrug“ heißt das Werk, das den Prozess von damals aufrollt. Doch Smith, eine der wichtigsten Stimmen der britischen Gegenwartsliteratur und brillante Beobachterin aktueller Entwicklungen, verwebt nicht nur geschichtliche Fakten, Auszüge aus Gerichtsprotokollen und fiktive Elemente.

    Sie schafft auch Bezüge zu heutigen Lügenbolden wie dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der Fake News verbreitet und mit populistischen Parolen Anhänger für sich gewinnt. „Nüchterne und unbequeme Fakten waren hier, in diesem Weltmeer der Gefühle, nicht von Bedeutung“, schreibt Smith. „Von allen Orten, an denen sich die Wahrheit zeigen kann, ist der unwahrscheinlichste ein Zirkus.“

    Die Hauptfigur ist eine scharfzüngige Kommentatorin

    Doch der historische Schauprozess ist nur einer von mehreren Erzählsträngen, den die Bestsellerautorin auf 500 Seiten entspinnt und meisterhaft zusammenhält. Denn getragen wird der Roman von der Protagonistin Eliza Touchet, Witwe, Haushälterin und Cousine des abgehalfterten Schriftstellers William Harrison Ainsworth, den es ebenfalls gegeben hat, dessen schwülstige Romane aber größtenteils in Vergessenheit geraten sind. 

    Gelangweilt von ihren häuslichen Aufgaben entpuppt sich Eliza als scharfzüngige Kommentatorin ihrer Zeit, die mehr Witz hat als die meisten Schriftsteller, die im Hause Ainsworth ein- und ausgehen, die von der Freiheit, selbst zu schreiben, aber nur träumen kann. Man folgt der klugen Frau und überzeugten Anhängerin der Anti-Sklaverei-Bewegung gerne durch das viktorianische London, wie sie mit kritischem Blick durch den Glaspalast der ersten Weltausstellung schlendert oder eine Kattun-Fabrik besucht, in der die Arbeitsbedingungen nur akzeptabel sind, solange die Profite stimmen.

    Literaten wie Dickens bekommen ihr Fett weg

    In ihren zeitgenössischen Romanen wie „Zähne zeigen“, „Swingtime“ oder „London NW“ wirft Zadie Smith Fragen zu Herkunft, Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus oder sozialer Ungleichheit auf. Auch in „Betrug“ widmet sich die Bestsellerautorin den großen Themen und seziert ganz nebenbei den britischen Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts. Charles Dickens, William Thackeray und andere Literaten kommen zu Wort, wirken in den Augen von Eliza allerdings weniger wie geistreiche Genies als vielmehr wie prätentiöse, „aufmerksamkeitsheischende Schiffbrüchige“. 

    Die abendlichen Dinners im Hause Ainsworth und das Geplänkel zwischen den Schriftstellern ist unterhaltsam, steht aber in hartem Kontrast zum eigentlichen Kern des Buchs: die Geschichte des Sklaven Andrew Bogle, der auf Jamaika aufwächst, im Dienste des verschollenen Roger Tichborne steht und als Zeuge im Gerichtsprozess aussagt.

    Zadie Smith geht auch ihrer eigenen Geschichte nach

    Schonungslos stellt Smith dem verklärten Blick auf die Vergangenheit die grausame Realität des britischen Kolonialismus entgegen. „Generationen über Generationen. Zu Staub zerrieben. Niedergepflügte Gedanken. Zermalmte Körper. Seelen, ausgekocht, bis sie zu Dampf zerstoben. Menschlicher Treibstoff.“ Als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Vaters geht Smith damit auch ihrer eigenen Geschichte nach. 

    Erst 1833 wurde die Sklaverei im britischen Empire beendet. „Und doch war alles, was die Leserschaft der Times je von der Tretmühle wissen würde, der Umstand, dass sie den Betrieb einstellte“, kommentiert Smith. Mit ihrem Roman liefert sie einen umfassenderen, lebendigeren Blick auf die Geschichte. 

    Die Bestsellerautorin springt zeitlich hin und her

    Das Werk hat es in sich, man muss schon dabei bleiben, um in dem Sammelsurium aus Charakteren, Stimmen und Themen nicht den Überblick zu verlieren. Aber genau das macht den Stoff so spannend. Man kann das Buch vermutlich mehrmals lesen und immer wieder neue Bezüge, Anspielungen und kluge Sätze entdecken. Smith bricht mit der chronologischen Erzählform, springt zeitlich hin und her und unterteilt ihren Roman in Hunderte Kapitel. 

    „Es fällt schwer genug, die Geschichte eines eigenen kleinen Lebens zu erzählen. Wie dann erst von der Saga anderer Menschen künden?“, fragt sich Eliza, bevor sie sich an ihre erste Erzählung wagt. Smith liefert die Antwort. Sie weiß, wie es geht.

    Zadie Smith: Betrug. Kiepenheuer&Witsch, 528 S., 26 €.

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