
Warum das Impfen zum Wettrennen gegen die Coronavirus-Mutation wird

Chaos, Fiasko, Katastrophe: Verliert die Kritik an der Impfstrategie gegen das Coronavirus jedes Maß? Das Beispiel Irland zeigt, dass die Lage noch viel ernster ist.
Die Erleichterung über die medizinische Sensation, dass binnen weniger eines Jahres ein Impfstoff gegen das gesundheitlich und wirtschaftlich zerstörerische Coronavirus gefunden wurde, verflog in Deutschland fast in der gleichen Lichtgeschwindigkeit, mit der die Forscher das Wundermittel aus dem Labor zauberten: Impfchaos, Impffiasko, Impfkatastrophe – die Kritik am Impfkonzept von Europa, Bund und Ländern scheint nur wenige Tage nach dem Start der Impfungen fast jedes Maß verloren zu haben.
Als die EU ihre Bestellstrategie bekannt gab, durfte sie sich noch ebenso eines positiven Echos erfreuen wie die Ständige Impfkommission und die Wissenschaftler der neu zu Ehren gekommenen Leopoldina, als sie einen ausgetüftelten Plan entwickelten, den gefährdetsten Bevölkerungsgruppen nacheinander den Schutz zukommen zu lassen.
Was ist passiert? Es ist nicht nur der Blick hinter die Kulissen, den unter anderem der deutsche Impfstoff-Entwickler und Biontech-Gründer Ugur Sahin enthüllt hat. Dass die EU-Kommission vom in Deutschland entwickelten modernsten Impfstoff mit bis dahin ungekanntem Schutzpotenzial von 95 Prozent weniger bestellen wollte als angeboten, ist ein höchst fragwürdiger Vorgang.
Die deutsche Corona-Politik ist nur noch Mittelmaß
Die Bundesregierung hat jedoch noch ein ganz anderes Problem. Pläne, die gestern noch als klug und durchdacht galten, erscheinen plötzlich mittelmäßig, wenn sie sich mit dem deutlich ambitionierteren Vorgehen anderer Nationen messen müssen. Man nennt das Wettbewerb. Und hier hat Deutschland im internationalen Vergleich längst seinen Nimbus als bester Krisenmanager verloren.
Allein die täglichen – oft vierstelligen – Todeszahlen, die in Verbindung mit dem Coronavirus stehen, bewegen sich inzwischen übertragen auf Bevölkerungsgröße auf dem gleichen dramatischen Niveau wie in den USA in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr. Damals erklärte der amerikanische Präsident Donald Trump seinen Landsleuten, das Virus werde von selber wieder verschwinden. Ganz so dämlich, wie sich das anhörte, war diese Hoffnung zwar nicht: Das Sars-CoV-1-Virus verschwand tatsächlich ohne große zweite Welle, ebenso wie die vergessene "Hongkong-Grippe", die Ende der Sechzigerjahre in Deutschland so viele Tote forderte, dass die Särge in U-Bahn-Tunneln und Gewächshäusern gestapelt wurden.
Trumps Äußerung war aber nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern aus Selbstüberschätzung gespeist. Und leider tödlich falsch. Beim zweiten Sars-Corona-Virus droht leider das absolute Gegenteil. Mehr noch als ein Blick nach Großbritannien zeigt derzeit die Infektionsentwicklung im benachbarten Irland, wie dramatisch die Gefahr wächst, dass Sars-CoV-2 in den Folgewellen zu einem noch verheerend ansteckenderem Virus mutiert.
Irlands Lockdown war Vorbild, dann explodierten die Corona-Infektionen
Im Oktober war Irland internationales Vorbild, wie mit einem harten konsequenten Lockdown binnen weniger Wochen die Neuinfektionszahlen nach unten gedrückt werden können: Von 165 wurde die Sieben-Tage-Inzidenz auf unter 35 gekämpft. Doch statt Erleichterung kam es zum gewaltigen Rückschlag: Die aus Großbritannien eingeschleppte Virusvariante ließ die Infektionen um Weihnachten raketenhaft nach oben schießen: Die Sieben-Tage-Inzidenz explodierte landesweit auf über 600. Die irische Regierung machte die Virus-Mutation verantwortlich und verhängte erneut einen harten Lockdown.
Wissenschaftler halten es für keinen Zufall, dass die Virus-Mutation in Großbritannien entstehen konnte, und machen die lang laxe Corona-Politik von Premier Boris Johnson dafür mitverantwortlich. Für Deutschland ist Irlands Infektionskurve ein warnendes Beispiel: Die Mutation ist ein Hauptgrund für die nochmals verschärften deutschen Lockdown-Bestimmungen. Dies sollte die Regierung offener und deutlicher aussprechen. Es geht nicht darum, Panik zu verbreiten, sondern das ohnehin breite Verständnis für die Maßnahmen in der Bevölkerung zu bestärken.
Irland zeigt aber vor allem: Das Impfen wird zum Wettrennen mit Virus-Mutationen. Und bei hartem Wettbewerb reicht Mittelmäßigkeit nicht aus. Und noch mehr schaden Selbstüberschätzung und das Verdrängen von Fehlern. Versäumnisse müssen kritisch aufgearbeitet statt wie derzeit mit dem Hinweis "Hinterher ist man klüger" beiseitegewischt werden.
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Jetzt aber befinden wir uns in einem Wettlauf gegen die Zeit: Wir brauchen so schnell wie möglich Impfstoffe in ausreichendem Umfang.
Politik muss handeln und alle Register ihres Könnens ziehen.
Das allein reicht aber nicht. Wir müssen unsere Kontakte verringern - im Rahmen der Regeln und wo möglich und vertretbar: darüber hinaus.
Vergessen wir nicht: Das Virus braucht unsere Kontakte. Ohne die ist es verloren.