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Foto: Alexander Kaya
Foto: Alexander Kaya

Julia Probst bei der Vereidigung als Stadrätin in Weißenhorn.

Interview
07.04.2023

Fall "Jule Stinkesocke": "Arbeit von Aktivisten für Klicks mit Füßen getreten"

Von Felix Gnoyke

Plus Die prämierte Rollstuhl-Bloggerin "Jule Stinkesocke" war offenbar ein Fake. Damit hat sie Behinderten einen Bärendienst erwiesen, sagt Bayerns erste gehörlose Stadträtin Julia Probst.

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die prämierte Bloggerin "Jule Stinkesocke" offenbar ein Fake ist. Sie berichtete auf Twitter täglich über ihr Leben als junge Frau mit Querschnittslähmung und erreichte damit fast 70.000 Follower. Als die Zweifel aufkamen, waren Sie eine der Ersten, die ihre Echtheit infrage stellten. Warum?

Julia Probst: 2012 war "Jule Stinkesocke" für die internationalen Weblog-Awards der Deutschen Welle nominiert und gewann. 2013 war ich auch nominiert. Im Zug des Treffens mit der Deutschen Welle wurde ich von einer dort arbeitenden Person gefragt, ob ich "Jule Stinkesocke" kennen würde. Ich erinnere mich gut an meinen Eindruck: Man hatte da latente Zweifel und wollte die mit einer Frage an mich ausräumen. Nichtbehinderte denken oft, Menschen mit Behinderungen würden sich ohnehin alle untereinander kennen. Menschen mit Migrationshintergrund kennen diese Art der Fragen sicherlich. Über diesen ambivalenten Eindruck habe ich dann mit ebenfalls behinderten Freundinnen gesprochen. Mein Unbehagen wurde immer größer, auch weil wir herumgefragt haben in der Community, ob jemand wen kennt, der sie persönlich kennt. Niemand konnte die Existenz bestätigen. Und bei den doch recht detaillierten Angaben im Blog – vor allem über den angeblichen Job als Ärztin und die privaten Hobbys war es mehr als seltsam, dass keiner da sagte: "Ja, doch, ich kenne da wen…" oder: "Ja, eine Bekannte von mir war Patientin da und die Beschreibung könnte zutreffen…" Nichts. Im Jahr 2016 habe ich für ein Jahr in Hamburg gelebt und dort herumgefragt. Ebenfalls keiner da, der die Person persönlich kannte. Und beim Lesen der Tweets und der Blogeinträge über Jahre hinweg waren meine Freundinnen und ich uns sicher, dass es die Person so nicht gibt und auch nicht geben kann. Aber für tiefere Nachforschungen hatten weder ich noch meine Freundinnen auch behinderungsbedingt die Zeit und die Ressourcen. Daher bin ich der Twitterin, die das alles aufgedeckt hat, auch dankbar. 

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Weshalb ist es so problematisch, dass einer der größten Accounts auf Twitter, der über ein Leben mit Behinderung berichtet hat, offenbar nicht echt war?

Probst: Eine wichtige Währung in den sozialen Medien ist die Authentizität. Wenn jemand also vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist, dann leidet diese Währung. Diese Währung leidet aber noch mehr, wenn es Minderheiten trifft wie Menschen mit Behinderungen. Es ist jetzt schon so, dass wir bei Behörden ständig nachweisen müssen, dass wir auch wirklich behindert sind und die beantragten Leistungen wirklich brauchen. Ich zum Beispiel musste bis zu meinem 33. Geburtstag alle fünf Jahre meinen Schwerbehindertenausweis mit einem ärztlichen Gutachten verlängern, das besagte, dass ich immer noch gehörlos bin und sich das auch nicht ändern wird. Das ist reine Schikane von den Ämtern, diese Energieverschwendung zu verlangen. Was denken die sich? Dass ich und andere Menschen mit Behinderung eines Morgens aufwachen und plötzlich nicht mehr behindert sind? Menschen mit Behinderungen leiden doch jetzt schon unter Akzeptanz und Sichtbarkeit. Solche Fake-Accounts wie dieser bündeln wichtige Sichtbarkeit, die dann anderen wirklich wichtigen und echten Accounts fehlt. Die ganze Geschichte ist sehr bitter, weil das Vertrauen in die Accounts gesunken ist und sinken wird, die wirklich authentisch und aus eigener Hand aus ihrem Leben als Mensch mit Behinderung berichten. Dabei möchte noch darauf hinweisen: Auch Menschen mit Behinderungen sind nicht nur ihre Behinderung. Wir können und müssen nicht immer über unsere Behinderung schreiben auf unseren Accounts.

Hat "Jule Stinkesocke" nicht auch zur Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung beigetragen? 

Probst: Die meisten Nichtbehinderten sind empört, dass es die hübsche rollstuhlfahrende Ärztin, die sexuell offen bloggte, gar nicht gibt. Die angebliche Anwesenheit von "Jule Stinkesocke" hat das Gewissen vieler Nichtbehinderter beruhigt, weil "Jule" ja gezeigt hat, dass man trotz Behinderung Medizin mühelos in kürzerer Studienzeit studieren kann die Schlussfolgerung war: Um die Inklusion kann es in Deutschland nicht allzu schlimm stehen, wenn "Jule" es schafft. Eltern mit einem behinderten Kind oder Menschen mit Behinderungen bekamen vorgespielt, dass man mit "harter Arbeit" vorankommt. Halt, waren da nicht auch Diskriminierungserfahrungen im Account drin? Doch, aber sie wurden eben nicht von "Jule" erlebt und die Häufigkeit und die Storys dazu waren etwas zu sehr darüber, obwohl ich natürlich wie andere Menschen mit Behinderungen auch mannigfaltige absurde Diskriminierungserfahrungen erlebt habe. Ich lese immer wieder als Verteidigung, dass "Jule Stinkesocke" trotzdem so viel für die Inklusion getan hat. Nein, das hat sie nicht.

Welche Folgen hat der Fall "Jule Stinkesocke" für Menschen mit Behinderung und die Inklusion? 

Probst: Der ganze Fall wird dafür sorgen, dass man Menschen mit Behinderungen viel weniger glauben wird bei den Diskriminierungserfahrungen. Man wird uns mehr als früher verdächtigen, wir seien faul oder würden nur so tun, als ob. Und das ist die Potenzierung von Ableismus. Ich habe es so satt, dem Ableismus zu begegnen. Er kostet Kraft und Energie und verhindert Inklusion. Im Übrigen bedeutet Inklusion nicht, dass Menschen mit Behinderungen irgendwelche "Vorteile" bekommen, sondern dass Menschen mit Behinderungen exakt die gleichen Voraussetzungen haben und behinderungsbedingt die Unterstützung dazu erhalten. Eine Behinderung zu haben bedeutet in Deutschland und in vielen anderen Ländern immer noch, dass man aussortiert wird. Die Mehrheit der Nichtbehinderten hat durch die Aussortierung von Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft nicht die Fähigkeit zu erkennen, wie unterschiedlich Ableismus auftritt und die Folgen des Falles von "Jule Stinkesocke" zu erkennen. Wir Menschen mit Behinderungen werden noch lange darunter leiden müssen und deshalb bin ich sehr wütend. Sie hat die ganze Arbeit von Aktivistinnen und Aktivisten für Klicks mit den Füßen getreten. Das ist ein Bärendienst. Ich habe es so satt.

Sie setzen sich schon seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Wie wichtig ist Twitter als Plattform dafür überhaupt?

Probst: Sehr wichtig. Ohne Twitter wäre ich wohl gar nicht bekannt geworden. Es ist ein gutes Sprachrohr gewesen für Menschen mit Behinderung. Seit der Übernahme bemerke ich mit großer Besorgnis, wie viele wichtige barrierefreie Einstellungen auf Twitter oder gar die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen nach unten gehen, weil der neue Twitter-Chef offenbar alles andere als inklusiv denkt. Der Fall mit dem gefeuerten Mitarbeiter, der eine Behinderung hat, war der deutlichste Wink mit dem Zaunpfahl. Soziale Medien sind also eine gute Plattform, wenn man sie lässt und sich nicht unterkriegen lässt.

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Zur Person: Julia Probst ist Bloggerin, Aktivistin für Inklusion und die erste gehörlose Stadträtin Bayerns. Bei der kommenden Landtagswahl ist sie Direktkandidatin im Stimmkreis Neu-Ulm und Listenkandidatin für die Grünen.

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