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Foto: Carolin Auer
Foto: Carolin Auer

Julia Probst wurde als Lippenleserin bei der WM 2010 bekannt.

Gebärdensprache
29.09.2019

Gehörlose Julia Probst kritisiert nicht nur schlechte Untertitel

Von Ida König

Julia Probst aus dem Kreis Neu-Ulm wurde als Lippenleserin bekannt. Heute setzt sie sich für die Anliegen von Gehörlosen ein - und übt massive Kritik.

Frau Probst, Sie wurden vor einigen Jahren durch ihren „Ableseservice“ auf Twitter bekannt, als Sie von den Lippen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gelesen haben und das Gelesene auf Twitter geteilt haben. Wie kamen Sie dazu?

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Julia Probst: Das ist während der Fußballweltmeisterschaft 2006 entstanden. Im Spiel Deutschland gegen Polen haben sich Lukas Podolski und ein anderer Spieler etwas in die Wolle gekriegt und der deutsche Trainer Jürgen Klinsmann sagte: „Lass es gut sein, das ist es nicht wert“, woraufhin Podolski wegging. Ich musste damals lachen und wurde gefragt, was ich so lustig finde. Da habe ich erst gemerkt, dass Hörende diese Gespräche auf dem Spielfeld gar nicht mitbekommen und ich hier einen Vorteil habe. Ab dann habe ich mit dem Lippenlesen von Fußballern angefangen, auf Twitter dann zur WM 2010. Dass der Erfolg so groß wird, hätte ich nicht gedacht, das war so auch nicht geplant.

Vor einigen Monaten wurden Sie gefragt, ob Sie ablesen würden, was Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Zitteranfall gesagt hat. Sie haben sich geweigert, weil Sie das moralisch verwerflich fanden. Wo ziehen Sie Grenzen?

Probst: Für mich ist eine Grenze überschritten, wenn sich ein Mensch in einer Ausnahmesituation befindet. Das kann zum Beispiel die Gesundheit betreffen. Die Richtschnur meines Handelns war: Angenommen, ich selbst wäre in einer solchen Situation - würde ich dann wollen, dass die Medien über mich auf diese Art und Weise berichten? Ich denke, auch Politiker haben ein Recht auf Privatsphäre, obwohl sie öffentliche Personen sind. Auch Frau Merkel ist nur ein Mensch. Und ich frage mich, ob man bei einem Mann genauso reagiert hätte.

Noch einmal zurück zum Fußball: Inzwischen halten sich viele Spieler und Trainer die Hand vor den Mund. Wie finden Sie das?

Probst: Das ist eigentlich ein Kompliment für mich. Das zeigt, dass ich meine Arbeit gut gemacht habe. Es ist natürlich ihr gutes Recht, aber eigentlich wäre es nicht nötig, solange man sich fair verhält.

Wie sehen Sie sonst fern, wenn Sie nicht gerade Fußballern auf die Lippen schauen? Auf Netflix beispielsweise findet man alle Filme und Serie mit Untertiteln. Was bringt Gehörlosen dieses Angebot?

Probst: Ich liebe Netflix, das benutze ich wirklich oft. Denn dort sind alle Sendungen untertitelt. Das liegt daran, dass der amerikanische Gehörlosenbund in den USA gegenüber Netflix auf der Grundlage des Gleichstellungsgesetzes "Americans with Disabilities Act" erfolgreich eingeklagt hat, dass alle Filme und Serien barrierefrei angeboten werden müssen. Netflix hat das dann auch in allen anderen Ländern übernommen. Anders ist das bei Amazon Prime, hier haben vielleicht 20 Prozent der Sendungen Untertitel.

Und wie ist es im herkömmlichen Fernsehen?

Probst: Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, für den Behinderte seit 2013 auch Rundfunkgebühren bezahlen müssen, ist zwar durch die Beitragszahlung die Untertitelquote erheblich gestiegen, was ich auch sehr begrüße. Aber die Qualität der Untertitel lässt leider häufig zu wünschen übrig. Viele Inhalte werden nur verkürzt oder vereinfacht wiedergegeben. Fragt man nach, werden oft technische Gründe vorgeschoben. Bei US-Sendern oder bei der BBC beispielsweise funktioniert es aber deutlich besser als bei uns. In Deutschland werden Untertitel in einem Block eingeblendet, in den USA erscheinen sie fortlaufend. Da sieht es so aus, als würden sie mit einer Tastatur ins Bild geschrieben. Diese Qualität würde ich mir in Deutschland auch wünschen.

Der öffentlich-rechtliche Sender Phoenix setzt häufig Gebärdensprachdolmetscher ein. Als Außenstehender kann man sich bei dem oft schnellen Tempo schwer vorstellen, dass hier der komplette Inhalt übersetzt werden kann. Wie nehmen Sie das wahr?

Probst: Ein guter Dolmetscher schafft es, egal in welcher Sprache, etwa 80 Prozent zu übersetzen. Das ist mir deutlich lieber als 40 Prozent durch Untertitel. Ich empfehle jedem, sich einmal die ARD-Tagesschau mit Untertiteln ohne Ton anzusehen, nur mit Untertiteln. Es ist erschreckend, wie wenig man da mitbekommt.

Auf einigen großen Musikfestivals und bei Konzerten gibt es mittlerweile Gebärdensprachdolmetscher für Musik. Viele Gehörlose kritisieren dieses Angebot aber massiv. Woran liegt das?

Probst: Die Kritik ist sehr komplex, das liegt auch daran, dass bei Hörenden überhaupt kein Wissen vorhanden ist über die Gebärdensprache, die Gehörlosenkultur und einfach über die Geschichte der Gehörlosen. Die Geschichte von Gehörlosen ist durchzogen von Fremdbestimmung. Nichtbehinderte haben schon immer darüber bestimmt, wozu und in welchem Umfang Gehörlose Zugang zu den Dingen haben. Beim Musikdolmetschen ist es so, dass hörende Gebärdensprachdolmetscher durch ihre Interpretation bestimmen, wie das Bild von uns Gehörlosen von Musik aussehen soll. Andere Konzertbesucher sehen das und denken, das sei doch ein tolles Angebot für Gehörlose und feiern den Dolmetscher dafür. Musikdolmetschen in der jetzigen Form dient dazu, dass schlechte Gewissen vieler Hörender zu beruhigen. Auch kommt hinzu, dass hörende Gebärdensprachdolmetscher nicht wissen, wie wir Gehörlose Musik wahrnehmen und was uns wichtig ist vom kulturellen Hintergrund her.

Mit vielen Gesten dieser Dolmetscher können wir außerdem nichts anfangen, weil sie nicht zur deutschen Gebärdensprache gehören. Ich verstehe nicht, warum sich hörende Dolmetscher wie Laura Schwengber dafür feiern lassen, dass sie gebärden können. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass man gehörlose Rapper oder Poeten für ihre Kunst bewundert und sie auf die Bühne holt. Es wird an der Zeit, dass sich die hörende Mehrheitsgesellschaft ein Bild davon machen kann, dass es eben auch gehörlose Künstler gibt.

Wie nehmen Sie Musik denn wahr? Und wie sieht gutes Musik-Dolmetschen für Sie aus?

Probst: Ich will wissen, was die Sängerin singt. Und ich will nicht wissen, welches Bild ein hörender Dolmetscher dazu im Kopf hat. Die Dolmetscher sollen eine saubere deutsche Gebärdensprache verwenden und sie nicht abwandeln, nur weil es besser aussieht oder zu ihrer Stimmung besser passt. Darum geht es nicht - die Verständlichkeit muss gewährleistet sein. Eine guter Weg wäre es beim Musikdolmetschen einen gehörlosen Gebärdensprachdolmetscher auf der Bühne zu sehen und die hörenden Gebärdensprachdolmetscher hier aus der Sichtbarkeit rauszunehmen. Dann kann der Gehörlose den Text vorbereiten und so vermitteln, dass andere Gehörlose die Musik verstehen. Der hörende Dolmetscher sitzt unten im Fotobereich und kann von dort aus mit dem Gehörlosen zusammen arbeiten und ihn mit Live-Informationen „füttern“. Beim Eurovision Song Contest in Wien hat man das so gemacht und das hat für die Gebärdensprachgemeinschaft auch gut funktioniert. Ich wünsche mir, dass Gehörlose nicht mehr bevormundet werden, sondern dass man auf Augenhöhe zusammenarbeitet.

Ihre Kritik richtet sich auch an die hörenden Dolmetscher. Was läuft hier falsch?

Probst: Es ist ein wichtiger Punkt, dass hörende Gebärdensprachdolmetscher sich bewusst werden, welches Machtgefälle da zwischen Gehörlosen und Hörenden herrscht. Hier würde ich mir echte Selbstkritik wünschen. Es muss auch zum klaren Kodex werden unter den Gebärdensprachdolmetscher, dass es nicht zum Aufgabenbereich gehört, Fragen zu beantworten, die ganz klar an gehörlose Menschen gerichtet sind. Und für das Thema Musikdolmetschen heißt das für mich, dass ein derartiges Geschäftsmodell, das die Muttersprachler ausschließt, zum jetzigen Zeitpunkt nicht akzeptabel ist, solange gehörlose Menschen noch so massiv ausgeschlossen werden und unsere Bedürfnisse übergangen werden. Wenn es keine Diskriminierung mehr gäbe, Gehörlose ganz selbstverständlich an der Gesellschaft teilnehmen könnten durch die selbstverständliche Anwesenheit der Gebärdensprachdolmetscher, dann spräche gegen so ein Geschäftsmodell nichts. Aber heute ist es einfach unmöglich, den dringenden Bedarf an Verständigung und Dolmetschen den Wirtschaftsinteressen von Hörenden zu unterwerfen. Gebärdensprachdolmetschen, also die barrierefreie Teilhabe an der Gesellschaft, ist eben nicht Nice-To-Have oder ein unterhaltsames Detail.

Viele Menschen sind unsicher im Umgang mit Gehörlosen. Welchen Tipp können Sie geben?

Probst: Ich erlebe es oft, dass Gesprächspartner eher den Gebärdensprachdolmetscher oder die Begleitperson ansehen und mit ihm kommunizieren statt mit dem Gehörlosen. Die Dolmetscher sind aber nicht Sprachrohr der Gehörlosen, sie übersetzen nur. Wenn Sie auf einen gehörlosen Menschen treffen, sprechen Sie einfach normal mit uns. Blickkontakt ist wichtig und etwas mehr Körpersprache hilft. Wenn man ohne Dialekt spricht und darauf achtet, auf Fremdwörter zu verzichten, können wir uns unterhalten. Schreien bringt nichts, das hören wir trotzdem nicht. Ansonsten möchten Gehörlose einfach wie normale Menschen behandelt werden, nicht wie Kleinkinder.

Woher können Gehörlose von den Lippen ablesen? Und können alle Gehörlosen Gebärdensprache?

Probst: Viele Menschen können das nicht glauben, aber in vielen Gehörlosenschulen können die Lehrer keine Gebärdensprache. Die Kinder müssen alles von den Lippen ablesen. Die meisten Kinder lernen die Gebärdensprache im Gehörlosen-Kindergarten, von den gehörlosen Eltern oder von gehörlosen Freunden. Bis Ende der 90er Jahre hat man gedacht, dass ein Kind dann kein Deutsch mehr lernen kann. Doch das Gegenteil der Fall, Kinder, die mit Gebärdensprache aufwachsen, haben einen größeren Wortschatz als Kinder, die Cochlea-Implantate tragen, aber keine Gebärdensprache lernen. Wäre das Cochlea-Implantat wirklich eine Erfolgsgeschichte, dann wären die Kinder mit Cochlea-Implantat alle auf Regelschulen. Das ist aber nicht der Fall. Der größte Vorteil ist, dass Menschen mit Implantat von der Gesellschaft eher akzeptiert werden, weil sie eher der Norm entsprechen. Das Problem ist, dass ein Großteil aller gehörloser Kinder hörende Eltern haben, die aber meistens keine Gebärdensprache lernen. Und das finde ich sehr schade, weil funktionale Kommunikation essentiell ist für die Eltern-Kind-Beziehung. Ich plädiere darum für kostenlose Hausgebärdenkurse für gehörlose Kinder mit hörenden Eltern und deren Familien, damit die Kommunikation von Anfang an da ist - das muss man gesetzlich verankern.

Zur Person: Julia Probst (37) ist eine deutsche Bloggerin und ehemalige Politikerin der Piratenpartei. Als Aktivistin setzt sie sich für Inklusion und Barrierefreiheit ein. Sie lebt im Kreis Neu-Ulm.

Dieses Interview wurde von Alicia M. Rand, Dolmetscherin für Gebärdensprache, gedolmetscht.

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