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Porträt: Keiner fährt länger Rikscha in Berlin als er

Porträt

Keiner fährt länger Rikscha in Berlin als er

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    Anselm Berkenkötter hat viel zu erzählen, wenn er Menschen auf seiner Rikscha durch Berlin fährt.
    Anselm Berkenkötter hat viel zu erzählen, wenn er Menschen auf seiner Rikscha durch Berlin fährt. Foto: Anna Mohl

    Die knallrote Fahrradrikscha vor dem Brandenburger Tor ist schon von Weitem gut zu erkennen. Der Besitzer des Fahrzeugs sitzt gerade nicht vorne, sondern hinten auf der Sitzfläche, wo zwei Fahrgäste Platz haben. Er hat ein kleines Notizbuch in der Hand, in das er eifrig hineinschreibt. Anselm Berkenkötter ist sein Name und er ist mit 71 Jahren Berlins „dienstältester Fahrradrikscha-Fahrer“, wie er selbst von sich sagt. Seit 1995 fährt er Interessierte durch die Stadt, in seiner Wartezeit verfasst er Gedichte. Er hat viel erlebt.

    Wenn Anselm Berkenkötter wartet, schreibt er Gedichte. So auch hier vor dem Brandenburger Tor.
    Wenn Anselm Berkenkötter wartet, schreibt er Gedichte. So auch hier vor dem Brandenburger Tor. Foto: Anna Mohl

    „Wo soll's denn hingehen?“, fragt Berkenkötter zu Beginn der Fahrt, bevor er sich auf seinen Sattel schwingt und losradelt. Das Fahrzeug nennt sich China-Rikscha. Seit vier Jahren fährt Berkenkötter mit einem E-Bike. „Ohne alles“ sei er am Anfang gefahren, sogar ohne Schaltung. „Heute würde das nicht mehr gehen. Auch wenn ich merke, dass ich für mein Alter überdurchschnittlich fit bin.“

    Als Berkenkötters Vater pleiteging, suchte er sich einen Job

    Der Anfang, das war 1995. Ein fortgeschrittenes Studium an der Freien Universität Berlin lag hinter ihm, zehn oder zwölf Semester Germanistik – er weiß es nicht mehr genau –, dazu Geschichte, Psychologie und Sinologie. Dann sei sein Vater pleitegegangen und er habe aufhören müssen, berichtet Berkenkötter. Irgendwann begann er, Rikscha zu fahren. Er hatte Spaß daran, die Leute staunten. Er habe auch schon bekanntere Personen herumkutschiert, Nina Hagen zwei Mal zum Beispiel.

    Hier ist Berkenkötter als junger Stadtführer in den 90ern zu sehen, umringt von Kindern.
    Hier ist Berkenkötter als junger Stadtführer in den 90ern zu sehen, umringt von Kindern. Foto: Sammlung Berkenkötter

    Der Weg führt entlang der Ost-West-Achse des historischen Berlin. An den Hackeschen Höfen geht es vorbei. Hier hatte er seinen ersten Auftrag, weiß der Stadtführer noch. An seinem ersten oder zweiten Tag fuhr er durch die Übertragung der ARD-"Tagesschau". Als sein Vater ihn so im Fernsehen sah, war er nicht glücklich. „Warum hast du überhaupt studiert?“, habe er gefragt, erinnert sich Berkenkötter. Aber schließlich habe der Vater den Beruf akzeptiert.

    Es geht weiter über die Museumsinsel, vorbei am Maxim-Gorki-Theater, vorbei am Bebelplatz mit seiner unterirdischen Bibliothek. Zu allem weiß Berkenkötter etwas. Über die Jahre hat sich viel Wissen bei ihm angesammelt, dass er Interessierten gerne preisgibt. Die meisten Mitfahrer möchten nicht von A nach B gebracht werden, sondern eine Stadtrundfahrt machen. „Die, die mit mir fahren, wollen gerne etwas wissen", sagt Berkenkötter. 

    „Unter den Linden“, berichtet er, sei auf Pfählen gebaut, Berlin befinde sich auf einem alten Sumpf. Daher stamme auch der Name: "Ber" sei aus dem Slawischen abgeleitet und bedeute Sumpf. „Auch wenn die Wissenschaftler sich nicht ganz einig darüber sind“, schränkt er ein. Der Stadtführer hält immer wieder an, um zu erzählen. Auch während der Fahrt plaudert er locker über die Schulter. Seine langen weißen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, eine Brille mit Silberrand sitzt auf seiner Nase. 

    Dienstältester Rikscha-Fahrer Berkenkötter schreibt auch Literatur

    Von seinem Leben erzählt der Mann aus dem Münsterland nur, wenn man ihn fragt. Es ist das eines Rebellen. Das erste Mal die Schule geschwänzt habe er in der ersten Klasse – aus Wut, weil die Lehrerin ihm nicht glaubte, dass er ein Bild ganz allein gemalt hatte. Mit 13 Jahren lief er erstmals weg nach Hamburg, schlief auf Baustellen. Als die Polizei ihn aufgabelte, kam er für zwei Wochen ins Jugendgefängnis, weil er sich als 16-Jähriger ausgegeben hatte und seine Identität nicht preisgeben wollte. Das Abschlusszeugnis der Volkshochschule wäre ihm fast nicht ausgehändigt worden, weil er sich weigerte, die langen Haare zu schneiden. Stattdessen schmierte er sich für die Abschlussfeier Pomade ins Haar, der Wind ließ den Plan jedoch auffliegen. Die Ausbildung an der Handelsschule danach brach er kurz vor Ende ab, packte seine Sachen und ging mit 17 nach Westberlin. Es folgte eine drogenreiche, düstere Zeit.

    Seit rund 30 Jahren fährt Anselm Berkenkötter Interessierte durch die Hauptstadt. Er hat viel zu erzählen.
    Seit rund 30 Jahren fährt Anselm Berkenkötter Interessierte durch die Hauptstadt. Er hat viel zu erzählen. Foto: Anna Mohl

    Die Literatur half ihm, Erlebtes zu verarbeiten. In den Jahren danach schrieb Berkenkötter viel – Kurzgeschichten, Romane, Gedichte. Seine Literatur betrachtet er als Lebenswerk. „Ich will am Ende meines Lebens etwas hinterlassen“, sagt er. Gefragt ist seine Kunst nicht überall. „Es ist ein bisschen beleidigend, meine Bekannten interessieren sich nur in Maßen dafür“, sagt er und schmunzelt. „Aber es ist, wie es ist. Für mich ist es wichtig, für andere nicht.“ Insgesamt bereue er wenig, sei eigentlich zufrieden. Er habe viel erlebt, sei viel gereist. „Noch bin ich gesund, kann mein Leben bestreiten.“ Das Fahrradfahren macht ihm Spaß – noch immer. 

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