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Foto: Mark Mulligan, dpa/Houston Chr
Foto: Mark Mulligan, dpa/Houston Chr

Im eigenen Auto geimpft zu werden, ist – wie hier im texanischen Houston – auch kein Problem in den USA.

Auslandsreportage
22.03.2021

Pragmatisch und schnell: Wie Joe Biden das Impfwunder gelang

Von Karl Doemens

Plus Auf Parkplätzen und in Supermärkten: In den USA wird im Akkord gegen Corona geimpft. Wie kommt es, dass sich die Lage seit Januar so stark verbessert hat?

Den Stich der Nadel spürt man kaum. Nach wenigen Sekunden ist der kostbare Impfstoff in den Oberarm injiziert. „Das war’s schon!“, sagt der Apotheker freundlich. Nur eine Frage hat er noch: „Kaufen Sie gelegentlich bei Safeway ein?“ Noch ehe der perplexe Impfling antworten kann, hält ihm der Mann im weißen Kittel einen Coupon für die Supermarktkette entgegen: „Gibt zehn Prozent Rabatt“, sagt er.

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Ein Einkaufsgutschein als Belohnung für eine Corona-Impfung? Oder eine Immunisierung als Köder zur Kundenwerbung? Man ist sich nicht ganz sicher, welches Interesse hier im Vordergrund steht. Aber eines lässt sich zweifelsfrei sagen: Die Impfaktion im Osten der US-Hauptstadt Washington ist perfekt organisiert. „Folgen Sie immer den blauen Pfeilen!“, sagte der Mann eben noch an der Tür des Rosedale-Freizeitzentrums, nachdem er den QR-Code mit dem vereinbarten Impftermin kontrolliert hatte. Der markierte Weg führt am Rand einer Turnhalle entlang bis zu einem Kreuz, wo ein weiterer Helfer vorübergehend den Führerschein mit Namen und Adresse einkassiert und einen einen Platz zuweist.

Impfungen in den USA: Eilig wurden Apotheken und sogar die Nationalgarde eingebunden

Genau 35 Stühle für die wartenden Ungeimpften stehen auf der einen Seite. Auf ebenso vielen Plätzen gegenüber sollen die Geimpften sicherheitshalber zehn Minuten verweilen. Dazwischen sitzen vier Apotheker von Safeway und spritzen im Akkord. 300 Dosen des Wirkstoffs von Pfizer/Biontech verabreichen sie an diesem Morgen. Weitere 300 Dosen von Moderna liegen im Kühlschrank für den Nachmittag bereit. „In exakt drei Wochen sehen wir uns wieder“, sagt der Apotheker zum Abschied: „Gleicher Ort, gleiche Zeit.“

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Foto: Karl Doemens
Foto: Karl Doemens

Zur Impfung gibt es einen Einkaufsgutschein.

Vergessen sind drei frustrierende Vormittage am Computer, in denen das völlig überlastete Anmeldeportal der Stadt Washington immer wieder abstürzte, den eingegebenen Sicherheitscode nicht akzeptierte oder am Ende plötzlich alle Termine schluckte. Auch in Amerika ist die Impfkampagne von organisatorischen Pleiten und technischen Pannen begleitet. Noch vor einem Monat bewertete die Washington Post die lokale Organisation mit der wenig schmeichelhaften Note „5 minus“. Doch unterm Strich relativiert das rasante Tempo der Immunisierung viele Probleme: 125 Millionen Spritzen wurden inzwischen gesetzt. Jeder vierte Amerikaner hat mindestens eine Dosis erhalten, mehr als 13 Prozent sind vollständig geimpft. In Deutschland sind es magere vier Prozent.

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Pragmatischer, teils wildwüchsiger, aber vor allem viel schneller – so lässt sich die amerikanische Impfkampagne im Unterschied zur deutschen beschreiben. Als „Tagesthemen“ und „heute journal“ am Ende des vergangenen Jahres eindrucksvolle Berichte über vorbildliche Impfzentren in Deutschland brachten, hatte sich die Trump-Regierung über die Verteilung des massiv georderten Impfstoffs noch keinerlei Gedanken gemacht. Im Januar funkten Bürgermeister reihenweise Alarm und monierten, dass sie mit der Organisation des Impfens völlig alleingelassen würden. Eilig wurden Katastrophenschutz, Nationalgarde und Apotheken, die in den USA oft mit Handelsketten verbunden sind, eingebunden und neue Vertriebswege organisiert.

Es gibt sogar „Drive-Thru“-Stationen für die Corona-Impfung

Nun gibt es also einen bunten Flickenteppich aus improvisierten Supermarkt-Impfstationen, öffentlichen Gesundheitszentren und großen „Drive-Thru“-Stationen, bei denen man einfach mit dem Auto durchfährt. Auch die Zugangsbedingungen unterscheiden sich von Bundesstaat zu Bundesstaat. In Alaska wird jetzt schon jeder Erwachsene geimpft. Anderswo muss man 50 oder 65 Jahre alt sein.

Dafür gibt es umfangreiche Listen mit Vorerkrankungen, die zu einem Termin berechtigen. Neben Krebs oder einer HIV-Erkrankung gehören dazu vielerorts Bluthochdruck und Übergewicht – wobei der Grenzwert mal bei einem Body-Mass-Index von 25, mal bei 30 und mal bei 40 liegt. Auf ein ärztliches Attest wird meist verzichtet. In Mississippi und New Jersey werden sogar Raucher vorgezogen.

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Wie hemdsärmelig die Massenimmunisierung abläuft, kann man morgens beim Giant-Supermarkt auf der H Street im Washingtoner Stadtteil Capitol Hill beobachten. Der große Lebensmittelladen öffnet um 6 Uhr, doch der hauseigene Apothekenschalter am Rand der Einkaufshalle zieht erst um 9 Uhr das Gitter hoch. Direkt davor sitzt neben dem Weinregal und einem Ständer mit Chipstüten ein Kunde auf einem einzelnen Stuhl und wartet geduldig. Der 72-jährige Andrew ist auf der Jagd. Sein Ziel: eine überzählige Dosis Impfstoff.

Ähnlich wie Andrew liegen derzeit Hunderttausende Amerikaner auf der Lauer. Sie durchforsten das Internet, tauschen Tipps über soziale Medien aus und stellen sich in langen Warteschlangen für Impfrestposten an. Weil die in den USA verbreiteten Vakzine von Pfizer/Biontech und Moderna ohne Kühlung nur wenige Stunden haltbar sind und gelegentlich Impfberechtigte nicht zum Termin erscheinen, gibt es immer wieder Dosen, die am Ende einer Schicht schnell verabreicht werden müssen. Der Giant-Apotheker handhabt das pragmatisch: Zunächst werden die Supermarkt-Beschäftigten gefragt. Wenn von denen keiner zugreift, werden die Kandidaten auf einer Warteliste benachrichtigt.

Andrew strebt den aussichtsreichen ersten Platz auf dem Klemmbrett an, das bei Öffnung der Apotheke ausgelegt wird – allerdings nicht für sich selbst. Der Rentner bessert sich seine Bezüge beim Dienstleister Skip The Line auf, den man auch engagieren kann, wenn einem die Wartezeit vor dem Restaurant oder dem Ticketschalter zu lange ist. Für 18 Dollar, etwa 15 Euro, in der Stunde hält er den Platz frei, bis ihn schließlich gegen 8.30 Uhr seine Auftraggeberin ablöst. Ein bisschen peinlich ist der beruflich stark engagierten Mittvierzigerin die Aktion schon. Aber: „Ich nehme niemandem etwas weg“, betont sie.

Das kann nicht jeder Impfdrängler von sich sagen. So wurde nach einem Bericht der Zeitung Miami Herald bereits im Januar, als die Vakzine noch richtig knapp waren, die Reichenenklave Ocean Reef auf den idyllischen Florida Keys mit ihren 1.200 Bewohnern – darunter auffallend viele Parteispender der Republikaner – komplett durchgeimpft. Die laxen Vorgaben des Trump-treuen Gouverneurs Ron DeSantis lockten auch vermögende Kalifornier in den Sonnenschein-Staat, die sich bei einem Kurztrip schnell vorab den Corona-Schutz besorgten.

Bidens Impf-Turbo wirkt. Der US-Präsident machte bereits große Versprechungen

Solche Fehlentwicklungen sind die Kehrseite einer Impfkampagne, die Schnelligkeit und Pragmatismus über Regelgenauigkeit und Einzelfallgerechtigkeit setzt. Auf der Habenseite jedoch steht das enorme Tempo, das die USA mit inzwischen rund 2,5 Millionen Impfungen pro Tag vorlegen. Möglich ist das, weil die Impfstoffe mittlerweile in großen Mengen zur Verfügung stehen. Daran hat auch Donald Trump einen Anteil: So sehr der Ex-Präsident durch das öffentliche Leugnen der Gefahr und die Ablehnung des Masken-Tragens bei der Eindämmung der Pandemie versagte, so massiv drängte er auf die Beschaffung eines Impfstoffs, der ihm das lästige politische Problem vom Hals schaffen sollte. Entsprechend wurden bei der Operation „Warp Speed“, zu Deutsch etwa: Windeseile, viel früher viel mehr Vakzine unterschiedlicher Hersteller geordert als in Europa. Sein Nachfolger Joe Biden hat ebenfalls gehandelt – mit der Eil-Beschaffung von Maschinen für ein Pfizer-Werk in Michigan und durch Druck auf den Hersteller Johnson & Johnson zur Zusammenarbeit mit Wettbewerber Merck.

So dürften die USA bald mit Covid-19-Impfstoff überversorgt sein. Bis zum Sommer werden jeweils 300 Millionen Dosen von Pfizer/Biontech und Moderna sowie 200 Millionen Dosen von Johnson & Johnson erwartet. Weil von den ersten beiden Impfstoffen zwei, von dem von Johnson & Johnson jedoch nur eine Gabe erforderlich sind, wäre das genug für 500 Millionen Menschen – fast doppelt so viel wie die 260 Millionen Erwachsenen, die in den USA leben. Schon Ende Mai werde es ausreichend Vakzine für alle Amerikaner geben, kündigte Biden an: „Das ist ein nationaler Kraftakt wie im Zweiten Weltkrieg.“ Den Puffer bei der Beschaffung begründete der US-Präsident mit der Notwendigkeit, für alle Eventualitäten gewappnet sein zu müssen. Und er sagte: „Falls wir einen Überschuss haben, werden wir ihn mit der Welt teilen.“

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Foto: Andrew Harnik, dpa
Foto: Andrew Harnik, dpa

Hat Grund zur Freude: Präsident Biden. Seine Impfkampagne ist erfolgreich.

Biden machte bereits große Versprechungen: Am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, werde das Land weitgehend zur Normalität zurückkehren und beim Barbecue mit Familie und Freunden feiern können, sagte er kürzlich. Bis dahin sollen Zahnärzte, Sanitäter, Arzthelfer, Hebammen und selbst Tierärzte beim Impfen helfen. So könnte schon bald nicht mehr das Angebot, sondern die Nachfrage zum Problem werden. Bei Afroamerikanern und Latinos gibt es aus kulturellen Gründen nämlich erhebliche Vorbehalte gegen eine Immunisierung. Zudem lehnen laut Umfragen bis zu 47 Prozent der Trump-Anhänger die Spritze aus ideologischen Motiven ab. Entsprechend eindringlich appellierte Biden an die Bürger: „Ich werde nicht aufgeben, bevor wir das Virus besiegt haben. Aber dazu brauche ich Sie. Sie müssen sich impfen lassen!“

Bei der Mittvierzigerin in Washington, für die sich Rentner Andrew anstellte, muss der Präsident keine Überzeugungsarbeit mehr leisten. Sie bekommt an diesem Tag tatsächlich um kurz vor 15 Uhr einen Anruf von der Giant-Apotheke. Es sind zwei Impfdosen übrig. Kurz darauf sitzt sie hinter einer improvisierten Spanischen Wand in dem Supermarkt. Vorne schieben die Kunden ihre vollen Einkaufswagen vorbei. Hinter dem Sichtschutz wird ihr die Spritze gesetzt.

Auch eine andere Frau, die Nummer zwei auf der Warteliste vom Vormittag, hat es geschafft. Verstohlen glücklich nicken sich die beiden Fremden zu: Schon in wenigen Wochen werden sie ihr altes Leben zumindest ein Stück weit zurückhaben, wissen sie.

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