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Foto: Nicolas Armer, dpa
Foto: Nicolas Armer, dpa

Der Landkreis Kulmbach verzeichnet laut RKI den derzeit höchsten Inzidenzwert in Bayern: über 300.

Corona-Zahlen
20.03.2021

Hätten wir mehr auf die Wissenschaft hören müssen?

Von Margit Hufnagel

Plus Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt – und zwar immer schneller. Trotzdem gibt es Diskussionen, ob der Inzidenzwert noch der richtige Maßstab ist.

Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer klingt resigniert. „Es funktioniert nicht“, sagt er. „Es“, das sind die Lockerungen des Lockdowns. Je höher die Zahlen der Corona-Neuinfektionen steigen, umso tiefer werden die Sorgenfalten. „Jetzt müssen wir versuchen, die Sache wieder einzufangen und vor die Lage zu kommen.“ Sein bayerischer Kollege Markus Söder ist da nicht viel optimistischer. Die nächsten Lockerungsschritte, die eigentlich am Montag im Freistaat in Kraft treten sollten, liegen bereits auf Eis.

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Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach spricht es deutlich aus: „Man kann es drehen und wenden, wie man will, wir müssen zurück in den Lockdown.“ Je früher man reagiere, desto kürzer könne der Lockdown sein, um wieder auf eine beherrschbare Fallzahl zu kommen.

Die Zahl der Corona-Fälle steigt seit Tagen massiv an. Von der Zuversicht, die noch Ende Februar herrschte, ist nichts mehr zu spüren – in vielen Städten und Landkreisen muss die Notbremse gezogen werden: Ab einem Inzidenzwert von 100 gilt wieder der harte Lockdown. Inzwischen haben wieder 40 bayerische Landkreise und Städte eine Inzidenz über 100. Davon liegen neun über 200 und einer über 300. Auf der anderen Seite haben noch 56 Landkreise eine Inzidenz unter 100, davon aber nur noch vier unter 50 und davon einer unter 35.

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Schweinfurt, vor nicht mal vier Wochen bayerischer Musterknabe mit den deutschlandweit niedrigsten Corona-Zahlen, ist inzwischen bei einer Inzidenz von 112. Geschieht nun genau das, wovor Experten gewarnt haben? Waren die Öffnungsschritte voreilig? Hätte die Politik stärker auf die Warnungen hören müssen?

Marx: "Es ist genau das eingetreten, was wir vorhergesagt haben"

„Es ist genau das eingetreten, was wir vorhergesagt haben“, sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die Prognosen seien mit hoher wissenschaftlich Sorgfalt ausgearbeitet worden, das Infektionsgeschehen wenig überraschend. „Damit das Infektionsgeschehen nicht außer Kontrolle gerät, muss Deutschland umgehend die Lockerungen zurücknehmen. Andernfalls benötigen wir umso längere Lockdown-Phasen, um von diesen hohen Zahlen herunterzukommen“, sagt Marx und warnt zugleich: „Alles, was man sich jetzt erlaubt, muss man später mit Zins und Zinseszins bezahlen.“

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Foto: Matthias Bein, dpa
Foto: Matthias Bein, dpa

Schon lange fordern Mediziner, die Corona-Selbsttests deutlich auszubauen.

Seit mehreren Tagen liegt der sogenannte R-Wert über 1, das bedeutet, dass Deutschland zurück ist im exponentiellen Wachstum. „Es muss dringend gehandelt werden“, sagt Marx, sonst werde die Inzidenz im April schnell auf bis über 200 steigen. Das DIVI-Modell zeige, dass es dann wieder rund 6000 Intensivpatienten mit Covid-19 in Deutschland geben könnte. Doch nur die Menschen in den Blick zu nehmen, die auf den Intensivstationen landen, sei ohnehin zu kurz gegriffen.

„Es geht um viel Leid“, sagt der Arzt. Selbst Patienten, die von einem schweren Verlauf von Covid verschont blieben, würden sich mit Spätfolgen wie Erschöpfungszuständen oder dem Verlust des Geschmackssinns plagen. „Wir reden da über viele junge Menschen“, warnt er. „Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Februar geben.“ Jetzt sei der Zeitpunkt, zu dem ein entspannterer Sommer leichtfertig verspielt werden könnte.

Hausärztechef: "Kann mir weitere Lockerungen nicht vorstellen"

Das betont auch der Chef des Bayerischen Hausärzteverbandes. „Ehrlich gesagt kann ich mir weitere Lockerungen nicht vorstellen“, sagt Markus Beier. Schon der bei dem letzten Corona-Gipfel erarbeitete Öffnungsplan sei in seinen Grundzügen falsch gewesen – durchgesetzt hätten sich Einzelne, die Quittung müssten nun alle bezahlen. „Wir haben die deutlich höhere Infektiosität der Mutante und die Lockerungen – das erhöht das Infektionsgeschehen“, sagt Beier. „Das ist sehr bedauerlich.“

Manche Menschen würden die Geduld verlieren mit dieser Krise, viele sehnten sich nach Lockerungen. Es habe sich deshalb der Eindruck durchgesetzt, man könne durch Öffnungen die Stimmung entspannen. „Nur leider ist dieses Gefühl kein besonders guter Ratgeber in dieser Pandemie“, sagt Markus Beier.

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Foto: John-Patrick Morarescu, dpa
Foto: John-Patrick Morarescu, dpa

Der größte Reiseanbieter Tui meldet kurz vor dem Start der vorgezogenen Ostersaison auf Mallorca anhaltend starke Buchungen.

Er fordert einen Plan, der länger trägt – dazu gehört das Impfen, aber auch eine deutlich ausgeweitete Teststrategie. Genau da geschehe noch zu wenig – auch, weil sich zu wenige Menschen daran beteiligen würden. Bisher sind die Testkapazitäten nach Angaben des ALM Laborverbands gerade mal zur Hälfte ausgeschöpft, weitere Ressourcen daher problemlos verfügbar. Die Politik, so Beier, solle daher Anreize setzen und gleichzeitig auch den Druck erhöhen.

Wenn es gelinge, Infizierte zu isolieren, könne die Pandemie ausgebremst werden. „Wenn wir wollen, dass bald wieder ein normales gesellschaftliches Leben möglich ist, muss man sich an der eigenen Nase packen“, sagt Beier. Und damit meint er nicht nur die Verantwortung, bei Erkältungssymptomen einen Test zu machen und sich zu isolieren. „Die Buchungszahlen, die von Mallorca vermeldet werden, schockieren mich“, sagt der Hausarzt. Schon im vergangenen Sommer sei Deutschland förmlich in die nächste Corona-Welle „hineingereist“.

Fuest: "Steuern auf einen Stotter-Lockdown zu"

Doch nicht nur Mediziner, sondern auch Wirtschaftsexperten hatten der Regierung ans Herz gelegt, zunächst die Zahlen zu senken und die Testkapazitäten zu erhöhen und erst dann zu lockern. „In der Tat besteht die Gefahr, dass wir jetzt auf einen Stotter-Lockdown zusteuern“, sagt Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Dabei gehe es gar nicht darum, das Land dauerhaft einzufrieren. „Ein Problem der Debatte und der aktuellen Politik besteht darin, dass nur in den Alternativen Öffnung versus Lockdown gedacht wird“, sagt Fuest.

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Eine Schule, aber auch ein Einkaufszentrum könnten nur dann öffnen, wenn ein Plan vorliege – so sollten etwa alle Schüler beziehungsweise Kunden vor Betreten einen Schnelltest machen. „Seit langer Zeit fehlt in Deutschland eine proaktivere Politik im Corona-Management“, kritisiert Fuest. Dabei hätten zusätzliche Tests zwei Vorteile: Erstens würden sie nachhaltige Öffnungen ermöglichen; zweitens würden mehr Infektionen entdeckt und die Fälle könnten schneller isoliert werden. „Das verhindert die Verbreitung der Infektionen.“

Füracker: Den Menschen keine falschen Hoffnungen machen

Das sieht man selbst im bayerischen Wirtschaftsministerium so. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Freistaat bei der Ministerpräsidentenkonferenz für Lockerungen einsetzt, ist verschwindend gering. Umso mehr ärgert man sich über Kollegen, die einen anderen Kurs fahren. „Das Thema, was, wann, wie geöffnet werden kann, ist sehr komplex“, sagt Finanzminister Albert Füracker. „Es ist absolut kontraproduktiv, wenn Politiker durchs Land fahren und den Menschen Hoffnungen machen, die man nicht erfüllen kann – da ist Enttäuschung vorprogrammiert.“ Auch ihm tue es im Herzen weh, wenn Geschäfte und Restaurants nicht öffnen könnten, wenn Kinder nicht in die Schule gehen könnten. „Es ist schwierig, den richtigen Weg in der Pandemie zu finden“, sagt Füracker. „Es hat noch niemand einen zuverlässigeren Richtwert als den Inzidenzwert gefunden.“

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Foto: Jens Büttner, dpa
Foto: Jens Büttner, dpa

Händler, Gastronomen und Hotelbetreiber protestieren vor dem Landtagssitz im Schweriner Schloss gegen die anhaltenden Corona-Schließungen.

Doch genau an dem entzündet sich ein heftiger Streit. In Rosenheim forderte etwa die Stadt eine Ausnahmegenehmigung – obwohl die Inzidenz über 200 lag, sollten Schulen und Einzelhandel offen bleiben. Der Antrag wurde abgelehnt. Der Landrat aus dem Kreis Traunstein findet ebenfalls deutliche Worte in Richtung Staatsregierung. „Aus meiner Sicht gibt es derzeit nicht nur eine medizinische und systemische Krise, sondern mittlerweile auch eine psychologische Krise, weil den Menschen eine verlässliche Perspektive fehlt und es ihnen immer schwerer fällt, die Maßnahmen mitzutragen“, sagt Siegfried Walch (CSU).

Die Inzidenz liegt in seiner Region bei über 140 – eine Woche zuvor war sie zweistellig. Walch fordert in einem Facebook-Video, Öffnungen vom Fortschritt der Impfungen und nicht nur am Wert der Corona-Neuinfektionen festzumachen. Unter anderem sollen Schulen und Kitas wieder öffnen können, wenn 70 Prozent der Menschen aus der ersten Priorisierungsgruppe wie Ärzte und Altersheim-Bewohner geimpft sind, so die Idee.

Holetschek hält am Inzidenzwert fest

Bei der bayerischen Staatsregierung beißt er damit auf Granit. „Der Inzidenzwert ist mehr als nur eine Zahl“, stellt Gesundheitsminister Klaus Holetschek klar. Eine Abkehr davon ist nicht vorgesehen – und das aus gutem Grund. „Sie ist weiterhin ein wertvolles Instrument, das vielseitig einsetzbar ist: als Benchmark im Bundesvergleich, zur Bewertung der regionalen und lokalen Entwicklung, zur Identifikation von Hotspots mit akutem Handlungsbedarf“, sagt Holetschek. Die 7-Tage-Inzidenz habe sich als guter Leitwert in ganz Europa erwiesen, ermögliche eine Betrachtung über einen etwas längeren Zeitraum.

 

„Die Fallzahlen eines einzelnen Tages fallen damit nicht zu stark ins Gewicht“, sagt Minister Holetschek. Bei einer höheren Testquote sei zudem die Dunkelziffer kleiner und damit liege die Fallzahl näher am tatsächlichen Wert. „Es ist aber nicht so, dass wir andere Kennzahlen ignorieren würden und die Inzidenz unser einziger Richtwert ist“, erklärt der Minister. „Jeden Morgen haben wir im Gesundheitsministerium eine Lagebesprechung. Dort schauen wir uns täglich viele wichtige Kennzahlen an – der Inzidenzwert ist nur einer davon.“

In die politische Entscheidungsfindung fließt bereits jetzt der R-Wert ein, die Ausbreitung der Virus-Varianten, die regionale Verteilung, der Impffortschritt und die Auslastung der Krankenhäuser. Überall stehen die Signale derzeit auf Rot. „Wichtig ist: In dieser Pandemie ist nichts in Stein gemeißelt“, sagt der bayerische Gesundheitsminister. „Deswegen kommen auch immer wieder neue Parameter hinzu, die wir berücksichtigen, andere fallen vielleicht mal weniger stark ins Gewicht.“

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