Die Corona-Pandemie hat uns auf massive Weise vor Augen geführt, wie verletzlich wir sind. Sie greift tief in unsere täglichen Abläufe ein, die bis dahin unhinterfragt als selbstverständlich galten. Unvorbereitete Regierungen und Expert(innen) standen und stehen vor einem Weg, der von fundamentaler Unsicherheit geprägt ist.
In Anbetracht dieser überaus anfälligen, ja fragilen Lebensumstände scheint es dringender denn je zu sein, unsere Konzepte und Alltagspraktiken zu überdenken und anschließend konsequent neu auszurichten. Gleichzeitig gilt es, die vielen Herausforderungen, die vor uns liegen, entschlossen anzugehen.
Nicht nur die Corona-Pandemie ist gegenwärtig eine Gefahr
Zwischen den normativ handlungsleitenden gesellschaftlichen Prinzipien und unserem Verhalten liegt eine enorme Diskrepanz, derer wir uns noch stärker bewusst werden sollten. Gleiches gilt für die wachsende Kluft zwischen tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Handlungsweisen sowie den Maßnahmen, die nötig sind, um eine Reihe verschiedener Krisen zu bewältigen.
Zu diesen Krisen gehören die aktuelle Pandemie, die Klimakrise und eine mehrdimensionale Umweltverschmutzung, steigende soziale Ungleichheit, aber auch die wachsende Gefahr KI-basierter Überwachungssysteme, um nur einige zu nennen.
Gegenwärtig gefährden nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch disruptive globale Spannungen und vielerorts rückwärtsgerichtete Nationalismen auch die akademische Freiheit von Universitäten. Dabei ist diese entscheidend, damit Universitäten ihre Funktion als Herzstück moderner Wissensgesellschaften eigenständig definieren und ausfüllen können.
Für den langfristigen Erfolg dieser Institutionen sind zwei Faktoren zentral: Die Fähigkeit zur Bewältigung einer großen Vielfalt an Unsicherheiten, nicht zuletzt angesichts der Geschwindigkeit sozialen ebenso wie technologischen Wandels, und die Befähigung zur aktiven Zukunftsgestaltung – über das Adressieren verschiedener Herausforderungen hinaus.
Die vorherrschenden Handlungsweisen erfordern kritisches Reflektieren
Letztendlich steht die Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlicher Expertise auf dem Spiel, die uns hilft, die jeweiligen Problemstellungen zu verstehen, zu analysieren und zu interpretieren. Die Vielfalt der Methoden und Ansätze eröffnet zugleich neue Möglichkeiten, Dinge sichtbar zu machen – bisweilen machen sie uns sogar der blinden Flecken unserer eigenen Sicht- und Denkweisen bewusst – und somit von gegenseitigem Respekt getragene Debatten mit Andersdenkenden zu führen.
Angesichts einer ungewissen Gegenwart und einer prekären Zukunft wird uns allen klar, dass die Welt nicht mehr entlang der gewohnten Linien verläuft. Die vorherrschenden Handlungsweisen erfordern kritisches Reflektieren über die Ambivalenzen, Widersprüche und Grenzen der gängigen Methoden und Ansätze, insbesondere über die Gültigkeit von Schlussfolgerungen, Szenarien und Prognosen.
Das beinhaltet beispielsweise auch, die „Möglichkeiten und Grenzen von Modellen“ anzuerkennen, wenn die Politik mit grundlegender, gar radikaler Unsicherheit konfrontiert ist, wie Paul Collier und John Kay in „Greed is Dead“ schreiben. Außerdem müssen wir die tieferen Ursachen ergründen, warum Regierungen - und Gesellschaften insgesamt - derartig unvorbereitet auf eine Pandemie wie COVID-19 waren.
Dies wurde besonders an der mangelnden Belastbarkeit verschiedener Sektoren deutlich. Die Fragilität unserer Gesundheitssysteme, die Schutzlosigkeit von Leiharbeiter(innen) – nicht nur in den Schlachthöfen - und die Schwierigkeiten deliberativer Entscheidungsfindung in demokratischen Mehr-Ebenen-Systemen sind nur einige Beispiele, die den dringenden Handlungsbedarf illustrieren.
Die Ziele universitärer Forschung müssen sich wieder stärker auf das Gemeinwohl ausrichten
In ihrem aktuellen Zustand verfügen die meisten Universitäten weder über die erforderliche Reflexivität noch über die nötigen Strategien, die komplexen Herausforderungen, die vor uns liegen, entschlossen anzugehen.
Auch wenn sie prinzipiell über ein weites Spektrum wissenschaftlicher Expertise verfügen, fehlen ihnen häufig die institutionellen Strukturen, Forschungskapazitäten und finanziellen Anreize, um umfassend gestaltete, interdisziplinäre und intersektorale Prozesse inklusiver Wissensproduktion zu entwickeln. Diese müssten gleichsam offen für den Erfahrungsschatz relevanter gesellschaftlicher Akteure sowie für neue Formen interaktiver Wissenschaftskommunikation und Ergebnisvermittlung sein.
Chronologie der Corona-Pandemie 2020 in Eilmeldungen
Mehr als 600 Eilmeldungen hat die Deutsche Presse-Agentur bis Dezember 2020 allein zum Corona-Virus gesendet. Die Überschriften dokumentieren die Zeitspanne von den ersten Hinweisen auf eine Ausbreitung der Viruserkrankung bis zu den jüngsten Erfolgen bei der Impfstoffentwicklung. Ein Überblick:
Januar
22.1. WHO ruft wegen Virus in China vorerst keine "internationale Notlage" aus
24.1. Zwei Fälle der neuen Lungenkrankheit in Frankreich nachgewiesen
28.1. Erster Coronavirus-Fall in Deutschland bestätigt
30.1. Coronavirus in China: WHO erklärt internationale Notlage
Februar
15.2. Frankreich meldet ersten Coronavirus-Todesfall in Europa
22.2. Italien will mit Coronavirus betroffene Städte abriegeln
29.2. Erster Coronavirus-Todesfall in den USA
März
9.3. Coronavirus: Landrat meldet ersten Todesfall in Deutschland
11.3. WHO bezeichnet Verbreitung des neuen Coronavirus als Pandemie
12.3. USA erlassen wegen Coronavirus 30-tägigen Einreisestopp aus Europa
12.3. CDU verschiebt Parteitag wegen Corona-Krise
12.3. Merkel: Wegen Coronavirus auf Sozialkontakte weitgehend verzichten
12.3. Bund und Länder: Ab Montag alle planbaren Operationen verschieben
13.3. UEFA stoppt vorerst Spielbetrieb im Fußball-Europapokal
13.3. NRW schließt nächste Woche alle Schulen
(plus 14 weitere Eilmeldungen zu Schulschließungen in anderen Bundesländern)
13.3. DFL: Fußball-Bundesliga stellt Spielbetrieb vorerst ein
13.3. Trump ruft wegen Coronavirus nationalen Notstand aus
16.3. Regierung schlägt Schließung von Läden vor - Supermärkte aber offen
17.3. Maas startet Rückholaktion für im Ausland festsitzende Deutsche
17.3. Bundesregierung spricht weltweite Reisewarnung aus
17.3. Fußball-EM wegen Coronavirus um ein Jahr verschoben
17.3. Nur noch EU-Bürger sollen nach Deutschland reisen dürfen
18.3. Österreich kontrolliert ab Mitternacht Grenze zu Deutschland
19.3. Coronavirus-Pandemie: Italien meldet mehr Tote als China
21.3. Mietern soll in Krise nicht gekündigt werden dürfen
22.3. Bund und Länder wollen Restaurants unverzüglich schließen
24.3. IOC bestätigt: Olympia in Tokio wird verschoben
25.3. Historisches Hilfspaket in Corona-Krise beschlossen
27.3. Corona-Pandemie: Italien meldet fast 1000 Tote an einem Tag
April
2.4. Weltweit mehr als eine Million nachgewiesene Coronavirus-Infektionen
6.4. Kreise: Zwei Wochen Quarantäne bei Rückkehr nach Deutschland
6.4. Corona-Infektion: Britischer Premierminister auf Intensivstation
15.4. Bund will Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter ermöglichen
15.4. Schulstart in Deutschland schrittweise ab 4. Mai geplant
17.4. Spahn: Ausbruch ist beherrschbar geworden
21.4. Saison in Handball-Bundesliga abgebrochen
22.4. Erste klinische Studie zu Corona-Impfstoff in Deutschland zugelassen
23.4. Merkel: Länder in Corona-Krise teils zu forsch
28.4. Nun bundesweite Maskenpflicht auch im Einzelhandel
30.4. Betriebe melden für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit an
Mai
5.5. Wirtschaftsminister der Länder wollen Gastronomieöffnung ab 9. Mai
6.5. Bund will Öffnung aller Geschäfte in Corona-Krise erlauben
6.5. Politik erlaubt Geisterspiele der Fußball-Bundesliga ab Mitte Mai
13.5. Bundesregierung beschließt Lockerung der Grenzkontrollen
15.5. Deutsche Wirtschaft bricht in der Corona-Krise ein
26.5. Bund und Länder einig: Kontaktbeschränkungen bis 29. Juni
Juni
9.6. Deutscher Export bricht im April um mehr als 30 Prozent ein
16.6. Offizielle Corona-Warn-App steht zum Download bereit
17.6. Großveranstaltungen werden mit Ausnahmen bis Ende Oktober verboten
17.6. Schulen sollen nach Sommerferien wieder komplett öffnen können
23.6. Zahlreiche Einschränkungen nach Corona-Ausbruch bei Tönnies
25.6. EU-Kommission genehmigt Rettungspaket für Lufthansa
29.6. Bundestag beschließt Mehrwertsteuersenkung und Familienbonus
Juli
3.7. Arznei Remdesivir erhält europäische Zulassung für Covid-19
7.7. Brasiliens Präsident Bolsonaro mit Coronavirus infiziert
22.7. Corona-Tests bei Einreise aus Risikogebieten sollen Pflicht werden
30.7. Deutsche Konjunktur bricht dramatisch ein
30.7. Historischer Konjunktureinbruch in den USA wegen Corona-Krise
August
11.8. Putin: Russland lässt Impfstoff gegen Coronavirus zu
14.8. Reisewarnung des Auswärtigen Amts für fast ganz Spanien samt Mallorca
27.8. Bund und Länder: Großveranstaltungen bis Ende des Jahres verboten
September
29.9. Feiern in öffentlichen Räumen auf 50 Teilnehmer beschränkt
30.9. Neue Corona-Risikogebiete in elf europäischen Ländern
Oktober
2.10. US-Präsident Trump und First Lady positiv auf Coronavirus getestet
7.10. Länder: Beherbergungsverbot für Reisende aus Risikogebieten
8.10. Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigen sprunghaft auf über 4000
14.10. Beschluss: Sperrstunde um 23 Uhr für Gastronomie in Corona-Hotspots
14.10. Bund und Länder wollen striktere Kontaktbeschränkungen in Hotspots
14.10. Frankreich führt Gesundheitsnotstand wieder ein
15.10. RKI meldet Rekordwert bei Corona-Neuinfektionen in Deutschland
21.10. Gesundheitsminister Spahn positiv auf Corona getestet
26.10. CDU-Spitze verschiebt Parteitag zur Vorsitzendenwahl ins nächste Jahr
28.10. Bund und Länder: Beginn von Kontaktbeschränkungen am 2. November
28.10. Bund und Länder wollen Gastronomiebetriebe vorübergehend schließen
November
2.11. Teil-Lockdown startet: Öffentliches Leben wird heruntergefahren
9.11. Biontech veröffentlicht vielversprechende Daten zu Corona-Impfstoff
16.11. Auch US-Konzern Moderna legt positive Daten zu Corona-Impfstoff vor
16.11. Bund und Länder appellieren: Keine privaten Feiern mehr
18.11. Bundestag beschließt Änderungen beim Infektionsschutzgesetz
25.11. Private Zusammenkünfte werden auf fünf Personen begrenzt
25.11. Bund und Länder lockern Kontaktbeschränkungen für Weihnachten
30.11. Moderna will Zulassung für Corona-Impfstoff in EU beantragen
Dezember
1.12. Biontech und Pfizer beantragen EU-Zulassung für Corona-Impfstoff
2.12. Biontech und Pfizer: Großbritannien lässt Corona-Impfstoff zu
2.12. Bund und Länder: Teil-Lockdown wird bis in den Januar verlängert
9.12. Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet "Querdenken"-Bewegung
12.12. Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer erhält US-Notfallzulassung
13.12. Bund und Länder beschließen harten Lockdown ab dem 16. Dezember
13.12. Bund und Länder beschließen Versammlungsverbot an Silvester
13.12. Möglichst keine Schul- und Kita-Besuche ab Mittwoch bis 10. Januar
13.12. Bund erhöht Corona-Finanzhilfen für Unternehmen
19.12. Corona-Impfstoff von Moderna erhält Notfallzulassung in den USA
21.12. EMA empfiehlt erste Zulassung eines Corona-Impfstoffs in der EU
21.12. EU-Kommission genehmigt Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer
22.12. Bayern führt Corona-Testpflicht für Reisende aus Risikogebieten ein
(dpa)
Hinsichtlich der kommenden Wochen und Monate, möglicherweise auch Jahre, sollten wir diese Entwicklungen im Auge behalten und die Ziele universitärer Forschung wieder stärker auf das Gemeinwohl ausrichten. Akademische Freiheit und unabhängige Forschung bilden die unabdingbare Grundlage für eine dringend benötigte Vertrauens- und Kreativitätskultur – für die Auseinandersetzung mit den vielen Herausforderungen im Moment und über die Corona-Pandemie hinaus.
Auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Skepsis gegenüber akademischen Eliten gilt es das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft kritisch zu reflektieren und neu zu justieren.
Wenn Universitäten eine gesellschaftlich anerkannte und – allen Ungewissheiten zum Trotz – zukunftsgestaltende Rolle einnehmen wollen, müssen sie sich in einen offenen, partizipativen und kritischen Dialog mit der gesamten Gesellschaft begeben. Dafür ist es erforderlich, dass sie sich ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten begeben, um neue Chancen für - hoffentlich! – das Erarbeiten langfristig tragfähiger Lösungen zu eröffnen.
Wilhelm Krull ist der Gründungsdirektor des THE NEW INSTITUTE
****
The New Institute ist eine Neugründung in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels ist. Von Herbst 2021 an werden hier bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie arbeiten. Gründungsdirektor ist Wilhelm Krull, akademische Direktorin für den Bereich der ökonomischen Transformation ist Maja Göpel. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehmers und Philanthropen Erck Rickmers.
Alle bisher erschienenen Teile der Serie finden Sie auf unserer Übersichtsseite.