Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Alice Schwarzer: "Von feministischer Außenpolitik heute weniger denn je die Rede"

Interview

"Von feministischer Außenpolitik kann heute weniger denn je die Rede sein"

    • |
    Ein filmreifes Leben: Anlässlich ihres Geburtstages widmet die ARD der bald 80-Jährigen einen Fernsehfilm. Foto: Oliver Berg, dpa
    Ein filmreifes Leben: Anlässlich ihres Geburtstages widmet die ARD der bald 80-Jährigen einen Fernsehfilm. Foto: Oliver Berg, dpa Foto: Oliver Berg

    Frau Schwarzer, ein Buch mit dem Titel "Mein Leben" hört sich immer ein wenig nach Abschied an, zumal dann, wenn es kurz vor dem 80. Geburtstag erscheint. Planen Sie einen Rückzug aus der Öffentlichkeit?

    Alice Schwarzer: (lacht) Nicht so wirklich. Denn bei der Emma gibt es gerade besonders viel zu tun. Zum Beispiel das Ringen um Verhandlungen und Frieden im Ukrainekrieg unterstützen. Der von mir initiierte offene Brief an Kanzler Scholz hat auf change.org inzwischen die 500.000-Marke erreicht. Eine halbe Million Unterschriften gegen noch mehr Waffen und für Verhandlungen! So ist die Stimmung in der Bevölkerung – im Gegensatz zu der in den sogenannten Leitmedien. Diese Aktion wäre ohne den Support von Emma nicht möglich. Oder auch der Kampf für ein verantwortungsvolles Transsexuellen-Gesetz. Ein Gesetz, das den echten Transsexuellen hilft – und die Zehntausenden von Mädchen, die sich neuerdings für "trans" halten, schützt. 

    Bei vielen Menschen "passiert" das Leben einfach, Sie haben sich intensiv mit Ihrem Lebenslauf, Ihrer Familie beschäftigt. Was hat das mit Ihnen gemacht, dieser analytische Blick auf sich selbst?

    Schwarzer: Ich habe mehr von mir selbst verstanden. Woher es kommt, dass ich keine Angst habe vor dem Widerspruch und ich nicht um jeden Preis geliebt werden will. Das habe ich schon bei meinen Großeltern gesehen, die meine sozialen Eltern waren. Sie waren im Alltag mutige Anti-Nazis und auch nach 1945 politisch kritisch. Bei uns war Nicht-Weggucken und Widerstand selbstverständlich.

    Sie sind als uneheliches Kind aufgewachsen im Nachkriegsdeutschland. Prägt Sie das noch heute, was Sie damals erlebt haben?

    Schwarzer: Dass ich unehelich war, habe ich selbst erst als Halbwüchsige erfahren. Mehr geprägt hat mich die eigenwillige Randständigkeit der Großeltern und ihre Rollenumkehrung: ein fürsorglicher Großvater, der mich gewickelt und gefüttert hat, und eine hochpolitische Großmutter, die in allem widerständig gedacht hat. Ich habe das in meiner gerade wieder erschienenen Autobiografie "Mein Leben" sehr genau beschrieben.

    Es gibt kaum jemanden, dem Sie komplett egal sind – die einen würdigen Sie als Kämpferinnen für den Feminismus, die anderen verachten Sie regelrecht. Wie hält man es aus, wenn so viele Menschen ein Bild von einem selbst im Kopf haben? Werden Sie des Kämpfens nie müde?

    Schwarzer: Ja, die hohe Emotionalisierung in Bezug auf meine Person, die Klischees und Projektionen, all das kann schon sehr ermüdend sein. Und das geht nun so seit fast 50 Jahren. Verrückt. Genau darum habe ich ja sowohl dem im September angelaufenen Dokumentarfilm zugestimmt wie auch dem am 30. November in der ARD laufenden Spielfilm über meine Jahre 1964 bis 1977, also vom ersten Frankreich-Aufenthalt bis zur ersten Emma. Ich hoffe, mit diesen beiden Filmen, die mir beide gerecht werden, können die Menschen sich ein realistischeres, genaueres Bild von mir machen. 

    Gerade kämpfen die Frauen im Iran mit ihren Leben um ihre Rechte. Wie viel Wandel ist möglich im Land der Mullahs?

    Schwarzer: Der Iran. Der beschäftigt mich ja nun schon seit genau 43 Jahren. Seit ich wenige Wochen nach der Machtergreifung Khomeinis und dem "Gottesstaat" dem Hilferuf der plötzlich zwangsverschleierten Frauen nach Teheran gefolgt bin. Schon damals war klar: Das ist ein Gewaltregime. Frauen, denen das Kopftuch verrutschte, wurde das so manches Mal mit Nägeln in den Kopf geschlagen. Und das ist seither nur schlimmer geworden. Ich fürchte, ohne Hilfe von außen werden die so todesmutigen Iranerinnen und Iraner nicht gegen dieses schwer bewaffnete, fanatische Gewaltregime ankommen. Aber wer hilft? Wer wagt es, sich im Namen der Menschenwürde gegen den Iran zu stellen? 

    Bleibt auch mit 80 Jahren streitbar: Alice Schwarzer, Journalistin und Publizist.
    Bleibt auch mit 80 Jahren streitbar: Alice Schwarzer, Journalistin und Publizist. Foto: Michael Bause, dpa

    Viele Iranerinnen sind enttäuscht von der deutschen Außenministerin. Ist so etwas wie eine "feministische Außenpolitik" am Ende nur ein belangloses Etikett?

    Schwarzer: Es sieht so aus. Von einer "feministischen Außenpolitik" kann heute weniger denn je die Rede sein.

    Was hätten Sie sich gewünscht, in Sachen Gleichberechtigung, bis zu Ihrem 80. Geburtstag abhaken zu können?

    Schwarzer: Die Gewalt. Die Gewalt in den Völkerkriegen wie in den Ehekriegen.

    Sehen Sie Rückschritte in manchen Bereichen? Wenn man sich soziale Medien anschaut, scheint es vor allem um Schönheit und anderen-gefallen-wollen zu gehen …

    Schwarzer: Ja, in genau diesen Bereichen sehe ich Rückschritte! Einerseits sagt man den jungen Frauen, sie könnten Astronautin werden oder Kanzlerin – andererseits suggerieren ihnen nicht nur die Influencerinnen, das Wichtigste wäre es, "begehrenswert" zu sein: schlank, glatthäutig – und zu konsumieren. Denn das mache glücklich. Soll das wirklich der Lebenssinn einer jungen Frau von heute sein?

    Längst kämpfen Aktivistinnen nicht mehr nur für die Emanzipation, sondern ringen auch um die Definition der Geschlechterfrage. Warum ist Ihre Haltung so hart, warum verwehren Sie Menschen ihre Geschlechtsidentität?

    Schwarzer: Meine Haltung hart? Im Gegenteil: Ich engagiere mich seit 1984 öffentlich für das Recht von echten Transsexuellen, in das andere Geschlecht zu wechseln und den Personenstand angleichen zu dürfen, und zwar ohne falsche Hindernisse und Demütigung. Aber das ist etwas anderes als die Zehntausenden jungen Mädchen, die sich seit einigen Jahren in der ganzen westlichen Welt für "trans" halten. Es liegt der Verdacht nahe, dass diese Mädchen nur in einem sehr verständlichen pubertären Geschlechtertrouble sind, dass sie keine "richtigen" Frauen werden wollen und sich nach "männlichen" Freiheiten sehnen. Ihnen kann geholfen werden.

    Wie könnte denn Hilfe aussehen, wenn nicht in einer Operation die Lösung liegt?

    Schwarzer: Die für Frauen wie Männer einengenden Geschlechterrollen, das kulturelle Geschlecht, ist wirklich überholt und muss abgeschafft werden! Wenn ein Mädchen gerne Fußball spielt oder sich in seine beste Freundin verliebt, kann es sich die Freiheit nehmen. Dafür plädieren wir Feministinnen seit der Stunde null. Und dafür muss eine junge Frau nicht ihr biologisches Geschlecht wechseln – inklusive gefährlicher Hormongaben und operativer Körperverstümmelungen. Was die Regierung da unter Einflüsterung der Grünen plant, ist schlicht kriminell. Schon 14-Jährige sollen, notfalls auch ohne Einverständnis der Eltern, ihr Geschlecht wechseln können. Ohne dass nach den Gründen für ihr Unbehagen am eigenen Geschlecht gefragt wird. Das ist unverantwortlich und muss verhindert werden! Ich habe ja im Frühling zusammen mit meiner Kollegin Chantal Louis ein ganzes Buch dazu veröffentlicht, "Transsexualität", das Psychologen, Ärzten, Genderforscherinnen und Betroffenen eine Stimme gibt. Ein rechtlicher Geschlechtswechsel darf nicht vor dem 18. Lebensjahr möglich sein – und muss von Psychologen und Ärzten hinterfragt werden können: Handelt es sich um eine echte, also untherapierbare Transsexualität – oder um einen vorübergehenden Geschlechtertrouble?

    Alice Schwarzer, aufgenommen im Dezember 1975.
    Alice Schwarzer, aufgenommen im Dezember 1975. Foto: Egon Steiner, dpa

    Fühlen Sie sich, die so hart für Frauenrechte gekämpft hat, manchmal ungerecht behandelt von der "neuen Generation" der Feministinnen?

    Schwarzer: Aber nein! Es ist doch nicht die Aufgabe jüngerer Frauen, uns Pionierinnen zu danken. Die sollen sich über die Freiheiten, die wir erkämpft haben, einfach freuen! Aber sie müssen wissen, dass diese Freiheiten nicht garantiert sind und jeden Tag neu verteidigt werden müssen. Wie eine selbstbestimmte Mutterschaft, also das Recht auf Abtreibung. Das ist schon jetzt nicht nur in Polen oder Amerika, sondern auch in Deutschland in höchster Gefahr. Dahinter stecken überall die fundamentalistischen Christen.

    Sie haben sich im Frühjahr gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine ausgesprochen. Stellen Sie sich damit nicht automatisch auf die Seite des Aggressors Putin?

    Schwarzer: Die aktuelle Entwicklung gibt mir ja mehr als recht. Inzwischen haben schon 500.000 Menschen diesen Brief unterzeichnet. Jeden Tag mehr Tote und Vergewaltigte, plus verbrannte Erde in der Ukraine. Und eine wachsende Krise in ganz Europa. Wo soll das hinführen? Irgendwann muss ja verhandelt werden, und dann müssen beide Seiten Kompromisse machen. Warum dann also nicht jetzt?! Ich stehe auf der Seite der Opfer, wie immer.

    Zur Person: Alice Schwarzer feiert am 3. Dezember ihren 80. Geburtstag. Geboren in Wuppertal, aufgewachsen bei den Großeltern. In den 70er Jahren schloss sie sich französischen Frauengruppen an. Schon bald wurde sie auch in Deutschland als Kämpferin für Frauenrechte bekannt. Sie ist Gründerin der Zeitschrift "Emma". Im November erschien ihr Buch "Mein Leben".

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden