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Krieg in Nahost: Mediziner über israelische Geiseln: "Sie sind durch die Hölle gegangen"

Krieg in Nahost

Mediziner über israelische Geiseln: "Sie sind durch die Hölle gegangen"

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    Maya S. (Mitte) wurde von der Hamas als Geisel gehalten und am Donnerstag freigelassen.
    Maya S. (Mitte) wurde von der Hamas als Geisel gehalten und am Donnerstag freigelassen. Foto: GOP/AP/dpa

    Wenn Chen Avigdori in diesen Tagen den Müll nach draußen bringen will, muss er mit dem Widerstand seiner zwölfjährigen Tochter Noam rechnen. „Sie lässt mich nicht das Haus verlassen“, sagt der 53-Jährige. Sie bestehe darauf, dass er nah bei ihr bleibe. Und in der Nacht wache sie manchmal schreiend auf. 

    Noam Avigdori gehört zu den 81 israelischen Geiseln, die die Terroristen der Hamas während der Feuerpause freigelassen haben. Insgesamt sind 32 Minderjährige unter den Befreiten, darunter einige sehr kleine Kinder: etwa Raz und Aviv Asher, vier und zwei Jahre alt, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben; Oder die vierjährige Abigail Edan, die mit ansehen musste, wie die Hamas ihre Eltern ermordete. Erst allmählich und bruchstückhaft gelangen Details zu ihrer Gefangenschaft an die Öffentlichkeit; vieles aber dürfen die Angehörigen aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht preisgeben. Das Bild, das sich aus den Informationsfetzen zusammensetzen lässt, ist dennoch bedrückend.

    Die kleine Emily weint oft lange in ihrem Bett

    So berichtete Thomas Hand, der Vater der neunjährigen Emily, seine Tochter spreche nach ihrer Rückkehr so leise, dass er sein Ohr an ihren Mund halten musste, um sie zu verstehen. „Sie war darauf konditioniert worden, keinen Lärm zu machen“, sagte Hand. Seit ihrer Rückkehr weine Emily abends oft lange in ihrem Bett, ohne sich trösten zu lassen. „Ich vermute, sie hat vergessen, wie es ist, getröstet zu werden.“ 

    Die 45-jährige Danielle Aloni, die gemeinsam mit ihrer sechsjährigen Emilia befreit wurde, berichtete von ihren Erfahrungen in einem Video für eine Gruppe, in der Angehörigen der Entführten sich organisiert haben. „Es gibt keinen Tagesplan, es gibt nichts“, sagt sie darin über ihre Zeit in Gaza. „Wir schlafen, wir weinen. Jeder Tag, der vergeht, ist wie eine Ewigkeit, die nie endet.“ Die Kinder und ihre Mütter hätten die meiste Zeit der Geiselhaft zusammen mit ihren Entführern in einem sehr kleinen Raum verbracht, berichtete ihr Bruder Moran Aloni. „Wenn sie etwas brauchten, mussten sie an die Tür klopfen“, auch für Toilettengänge. „Vielleicht kam jemand nach einer Stunde, vielleicht nach vier Stunden.“ Oft habe es auch an Essen und Wasser gemangelt.

    Drogen, Gewalt, Krankheiten: Was die Geiseln der Hamas erdulden mussten

    Die Kinderärztin Yael Mozer Glassberg beschreibt dramatische hygienische Zustände während der Geiselhaft. „Einer der Teenager durfte in 50 Tagen nur einmal duschen“, berichtet sie. Viele der Kinder hätten unter extremem Läusebefall und Hautausschlägen gelitten. Alle Geiseln verloren außerdem zehn bis 15 Prozent ihres Körpergewichts. Anfangs seien die jungen Freigelassenen sehr eingeschüchtert gewesen, erzählt eine andere Ärztin. In der ersten Zeit im Krankenhaus hätten viele von ihnen kaum gesprochen oder nur geflüstert. "Ein Junge hat sogar gefragt, ob er aus dem Fenster schauen darf."

    Die Tante des zwölfjährigen Eitan Yahalomi sagte französischen Medien, Männer der Hamas hätten den Jungen geschlagen und dazu gezwungen, Videos von den Massakern des 7. Oktobers anzusehen. Einem der Teenager sagten sie jeden Tag: "Du wirst mindestens ein Jahr hierbleiben." Einige Geiseln sollen nach einem Bericht der Zeitung Haaretz sogar unter Drogen gesetzt worden sein. Die Entführer hätten auch jeweils ein Bein der Jungen in ein Auspuffrohr eines Motorrads gesteckt, um so eine Markierung zu hinterlassen, damit sie im Fall einer Flucht identifiziert werden können. Umgekehrt gab die Hamas Freigelassenen nach Auskunft des israelischen Gesundheitsministeriums aber auch Stimmungsaufheller, damit diese bei der Übergabe nicht allzu verstört wirkten. 

    Ein Mediziner fühlt sich an den Holocaust erinnert

    Itay Pessach, ein Medizinprofessor am renommierten Sheba Medical Center bei Tel Aviv, hat 29 Geiseln behandelt, die jüngste von ihnen drei, die älteste 84 Jahre alt. "Sie sind durch die Hölle gegangen", erzählt er im israelischen Fernsehen, ohne Details zu nennen. "Das steht mir nicht zu. Diese Menschen werden ihre Geschichten erzählen, wenn sie glauben, dass die Zeit dafür gekommen ist." Nur so viel vielleicht noch: Viele der Geschichten, die er eine Woche lang gehört habe, hätten ihn an das erinnert, was Holocaust-Überlebende einst von ihren Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges berichtet hätten – von körperlichen Misshandlungen bis hin zum Psychoterror.

    Die erste Nacht in Freiheit, erinnert Pessach sich, habe kaum eine Geisel geschlafen und auch er, der Arzt, nicht. Zu groß war die Aufregung, zu groß die Freude über das Wiedersehen, zu hoch auch der Adrenalinspiegel. Einige Geiseln hätten die ganze Nacht durch geredet, andere hätten erst in seiner Klinik erfahren, dass Angehörige den Massakern vom 7. Oktober zum Opfer gefallen seien. Wieder andere wussten gar nicht genau, was an jenem 7. Oktober überhaupt passiert ist, weil sie schon früh gefangen genommen und von allen Informationen angeschnitten waren. 

    Besonders beeindruckt hat Pessach eine Gruppe älterer Frauen, alle um die 80 Jahre alt, aus dem Kibbuz Nir Oz. Keine dieser Frauen wollte sich bei der Ankunft in der Klinik in einen Rollstuhl setzen. Alle gingen aufrecht hinein, ein Zeichen an die Adresse der Hamas: Ihr habt uns nicht gebrochen. Trotzdem ist unter den Angehörigen der Geiseln, die sich noch in der Hand der Terroristen befinden, die Sorge groß. Insgesamt sollen die Terroristen noch 137 Menschen gefangen halten, darunter etwa ein Dutzend mit deutschem Pass. "Wir sind sehr besorgt", sagt Maya Roman, deren Cousine Yarden in der vergangenen Woche freigelassen wurde, aus deren Familie sich aber immer noch eine Schwägerin in Gaza befindet. "Wir hoffen, dass der Vormarsch unserer Armee die Hamas wieder an den Verhandlungstisch zwingt", sagt sie. "Aber es sieht so aus, als würde das noch dauern. Und das ist sehr, sehr beunruhigend." 

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