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Kirche: Missbrauchsopfer fordern Politik zum Handeln auf

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Missbrauchsopfer fordern Politik zum Handeln auf

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    Canisius-Kolleg Berlin, das Benediktinerkloster Ettal in Oberbayern, die Regensburger Domspatzen: 2010 setzte eine Welle von Enthüllungen über massenhaften sexuellen Missbrauch in Reihen der katholischen Kirche ein.
    Canisius-Kolleg Berlin, das Benediktinerkloster Ettal in Oberbayern, die Regensburger Domspatzen: 2010 setzte eine Welle von Enthüllungen über massenhaften sexuellen Missbrauch in Reihen der katholischen Kirche ein. Foto: Nicolas Armer, dpa

    Als 2010 der jahrelange Missbrauch von Schülern am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurde, erschütterte das die Nation. Es war ein Wendepunkt für eine Institution, die sich heilig nennt. Dass auch die katholische Kirche in Deutschland, wie die in Irland oder den USA, diese dunkle Seite hatte, konnte man erahnen – das tatsächliche Ausmaß aber nicht. Für die breite Öffentlichkeit war es unvorstellbar, was Kleriker Kindern und Jugendlichen angetan hatten. Aber immer neue Abgründe an sexueller, körperlicher und geistlicher Gewalt taten sich auf. Dem Canisius-Kolleg folgten Fälle im oberbayerischen Benediktinerkloster Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen.

    Seitdem ist viel geschehen, und doch viel zu wenig für Missbrauchsopfer. Sie sind bitter enttäuscht. „Es ist beschämend, dass auch nach 15 Jahren keine Lösung im Sinne der Betroffenen gefunden wurde. An Anläufen und Vorschlägen hat es nicht gemangelt“, sagt Matthias Katsch am Dienstag vor Medienvertreterinnen und -vertretern in Berlin. Katsch war am Canisius-Kolleg missbraucht worden, Anfang 2010 – es war der 14. Januar –, war er einer von drei ehemaligen Schülern, die dem damaligen Schulleiter erzählten, was sie erlitten hatten. Damit brachten sie etwas ins Rollen, eine Welle von Enthüllungen setzte ein.

    Betroffeneninitiative hält Aufarbeitung in der katholischen Kirche für gescheitert

    Katsch spricht für die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“. Sie bezeichnete die Aufarbeitung in der katholischen Kirche in einem Brief an die Bundestagsabgeordneten kürzlich als gescheitert. Am Dienstag wirft er ihr vor, Betroffene mit mickrigen Beträgen abzuspeisen. „Wer nicht einverstanden sei, so sagten uns die Bischöfe …, der könne ja klagen.“ Bislang taten das nur wenige: Denn ein Zivilprozess – bei Verjährung der Taten – ist steinig, verlangt Betroffenen einiges ab und ist überhaupt erst begehbar, nachdem eine Diözese zuvor auf die „Einrede der Verjährung“ verzichtet hat. Längst nicht alle Diözesen sind dazu bereit. Katsch fordert daher die Einrichtung eines von der Kirche völlig unabhängigen Fonds, um Opfern aus Reihen der katholischen Kirche angemessene Zahlungen zu ermöglichen. Bislang erhalten diese auf Antrag hin freiwillige „Anerkennungsleistungen“, die sich an Urteilen zu Schmerzensgeldern staatlicher Gerichte in vergleichbaren Fällen orientieren. Überwiegend geht es dabei um Summen von bis zu 50.000 Euro. Die neue Bundesregierung, so Katsch, müsse „sich dafür einsetzen, eine Entschädigungslösung zu konstruieren im Austausch mit den Betroffenen“.

    Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ sagte am Dienstag: „Es ist beschämend, dass auch nach 15 Jahren keine Lösung im Sinne der Betroffenen gefunden wurde.“
    Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ sagte am Dienstag: „Es ist beschämend, dass auch nach 15 Jahren keine Lösung im Sinne der Betroffenen gefunden wurde.“ Foto: Leona Goldstein

    Seit Jahren kritisieren Missbrauchsopfer auch den Staat für sein aus ihrer Sicht zu zögerliches Handeln. Im vergangenen Oktober hatte der Bundestag in erster Lesung einen Gesetzentwurf beraten, mit dem die Ampelkoalition Kinder und Jugendliche besser vor sexuellem Missbrauch schützen wollte. Es ging um eine Aufwertung des Amtes der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung und darum, dass Betroffene unter anderem Zugang zu Akten bei Jugendämtern erhalten sollten. Ein Gesetz, das Betroffene wie Fachleute als überfällig erachten. Dann zerbrach die Ampelkoalition. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt Familienstaatssekretärin Ekin Deligöz (Grüne), sie hoffe nach wie vor, dass der Entwurf doch noch vor der Bundestagswahl am 23. Februar durchkommt. Wenn nicht? „Das Gesetz wird kommen“, sagt sie, „die Frage ist nur, wann.“

    Auch in der evangelischen und katholischen Kirche geht es teils nur in kleinen Schritten voran. So wurde erst vor fast genau einem Jahr eine umfassende Missbrauchsstudie für evangelische Kirche und Diakonie vorgestellt, ein einheitliches Modell für Entschädigungszahlungen lässt auf sich warten. Seit 2021 – seit dem Bestehen einer Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen – erhielten Betroffene auf Antrag hin von der katholischen Kirche durchschnittlich etwas mehr als 22.000 Euro, insgesamt knapp 57 Millionen Euro (Stand: Ende 2023). Schon seit 2018 gibt es für die katholische Kirche eine größere Studie, doch immer noch nicht kann jede der 27 Diözesen ein eigenes unabhängiges Gutachten vorweisen, darunter die Diözese Augsburg.

    Münchner Kanzlei WSW stellt bald eine neue Missbrauchsstudie vor

    Weltweit betrachtet, steht die katholische Kirche in Deutschland in diesem Punkt allerdings vergleichsweise gut da: Am kommenden Montag wird die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) eine neue Untersuchung vorlegen. Diesmal untersuchte sie für die Diözese Bozen-Brixen Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker im Zeitraum von 1964 bis 2023. Die katholische Diözese Bozen-Brixen ist die erste in Italien – dem Land, in dem der Vatikan liegt –, die eine unabhängige Missbrauchsstudie in Auftrag gegeben hat.

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    1 Kommentar
    Susanne Kling

    Staats- und Justizversagen Institutionen wie die katholische und evangelische Kirche waren in zahlreiche Missbrauchsfälle verwickelt. Doch der Staat hat es versäumt, unabhängige Ermittlungen konsequent voranzutreiben und die Opfer zu unterstützen. Stattdessen wurde der Kirche viel Spielraum gelassen, eigene Untersuchungen zu führen – die Täterorganisation bestimmt damit die Spielregeln. Viele Täter blieben unbehelligt, während die Opfer allein gelassen wurden. Es entstand ein Klima der Straflosigkeit, das die Opfer verhöhnt und das Rechtssystem erschüttert. Die Politik muss handeln: unabhängige Ermittlungen, Aufhebung von Verjährungsfristen und eine Gleichbehandlung der Kirchen sind unabdingbar. Die Opfer verdienen Gerechtigkeit.

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