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Foto: Oleksandr Ratushniak, dpa
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Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her - und ausgerechnet an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben.

Krieg in der Ukraine
24.06.2022

Wie groß ist Putins Erfolg im Donbass wirklich?

Von Margit Hufnagel

Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her. Ausgerechnet an diesem Tag muss die Ukraine die Großstadt Sjewjerodonezk aufgeben.

Auf den Bildern ist Rauch und Feuer zu sehen. Diejenigen, die noch in der Stadt verharren, leben in einem regelrechten Trümmerfeld. Aus Häusern wurden Ruinen, durchsiebt vom Artilleriebeschuss. 54 Krater hat ein Oberst nach dem jüngsten Angriff gezählt. Seit Wochen kämpfen russische und ukrainische Truppen um Sjewjerodonezk. Die Industriestadt liegt ganz im Osten der Ukraine und gehörte zu den letzten Teilen von Luhansk, die noch nicht erobert waren. Der Donbass, zu dem das Gebiet gehört, war ohnehin seit Jahren in Teilen von Separatisten besetzt.

Nun gibt Kiew zumindest Sjewjerodonezk verloren, zieht seine Soldaten zurück. „Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren“, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, am Freitag im Fernsehen. Die Zahl der Toten würden dann stark steigen. „Deshalb haben unsere Verteidiger, die dort sind, bereits den Befehl erhalten, sich in neue Positionen zurückzuziehen und von dort aus normale, vollwertige Militäroperationen durchzuführen.“ Die Gefahr, dass die Männer in einer Art Kessel landen, umzingelt von Russland, war zu groß. Auch in der Zwillingsstadt Lyssytschansk, die auf der anderen Seite des Flusses liegt, dürfte das gleiche Szenario bevorstehen.

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Für den Kreml ist Sjewjerodonezk auch ein Propaganda-Erfolg. „Die Aufgabe der Stadt ist zwar bedauerlich, aber sie bedeutet nicht viel für den weiteren Kriegsverlauf“, sagt Joachim Krause, der das Institut für Sicherheitspolitik in Kiel leitet. Die Stadt sei strategisch schlicht nicht relevant. „Die Aufgabe der Stadt zeigt, dass die Russen mit ihrer aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Taktik der durch massive Artillerieschläge vorbereiteten Angriffe zwar gegen die Ukrainer Geländegewinne erzielen können, aber die Größenordnung der Gewinne bleibt begrenzt“, sagt Krause. „Und solange sie keine größeren Verbände der ukrainischen Streitkräfte einschließen können, wird das den Kriegsverlauf auch nicht ändern.“

Krause setzt die Gewinne und Verluste ins Verhältnis: Im Raum Charkiw und im Süden der Ukraine hätten die ukrainischen Verbände in den vergangenen sechs Wochen mehr Gelände zurückgewonnen als sie gegen die Russen im Donbass verloren haben, so der Sicherheitsexperte.

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Foto: Oleksandr Ratushniak, dpa
Foto: Oleksandr Ratushniak, dpa

Vier Monate nach Kriegsbeginn hat die Ukraine den Rückzug ihrer Truppen aus der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk im Osten des Landes angeordnet.

Allerdings gilt auch: Sollte Luhansk komplett fallen, hätte der Kreml eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht. Schon seit Wochen konzentriert sich seine Armee auf Angriffe im Donbass. Kurz vor dem Überfall Ende Februar hatte Putin das Separatistengebiet Luhansk unter großem internationalen Protest als unabhängige „Volksrepublik“ anerkannt, ebenso wie das Nachbargebiet Donezk. Beide Regionen will Moskau offiziell von ukrainischen Nationalisten „befreien“. In Donezk immerhin kontrollieren die Ukrainer noch rund 40 Prozent des Territoriums. Nächster Schritt von Putin dürfte es nun also vor allem sein, die Oblast Luhansk schnellstmöglich an Russland anzugliedern. Zumindest für eventuelle Friedensverhandlungen könnte dies wichtig sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuletzt wiederholt darauf hingewiesen, dass es ihm darum geht, die komplette Ukraine zurückzuerobern. Das könnte den Westen in die Bredouille bringen, da der auch unter dem Druck der Energiekrise an einem Kompromiss interessiert sein dürfte.

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Und doch dürfte auch Putin wenig überzeugt sein vom bisherigen Verlauf des Krieges. „Auf die Dauer wird Putin mit diesem primär auf den massiven Einsatz von Artillerie setzenden Vorgehen nicht erfolgreich sein können“, glaubt Sicherheitsexperte Krause. So sehr es den Anschein hat: Auch dem russischen Präsidenten läuft die Zeit davon. „Es wird mehr als ein Jahr dauern, bis er den Donbass auf diese Art und Weise wird erobern können“, glaubt Krause. Bis dahin werde ihm die Artilleriemunition und vor allem das Personal ausgehen. „Der Sieg von Sjewjerodonezk ist ein Pyrrhussieg, die Zahl der toten und verletzten Russen ist um ein Vielfaches höher als aufseiten der Ukrainer, denn auf russischer Seite kommen immer mehr schlecht ausgebildete Reservisten zum Einsatz“, sagt der Experte. Darauf hatte kürzlich auch das britische Verteidigungsministerium hingewiesen: Russland baut immer stärker auf pensionierte Militärs, auf Söldner, auf schlecht ausgebildete Kräfte. Dies sei auf die Verluste im Krieg zurückzuführen. Als Indiz dafür nennt das britische Verteidigungsministerium den Fall eines Kampfpiloten, der ein kommerzielles GPS-Gerät statt das Navigationsgerät des russischen Militärs eingesetzt hat.

 

Putins Abnutzungskrieg zersetzt zudem die Moral – und das auf beiden Seiten. „Ukrainische Kräfte haben wahrscheinlich in den vergangenen Wochen unter Desertionen gelitten, allerdings ist höchstwahrscheinlich insbesondere die russische Moral weiterhin mit Problemen belastet“, hieß es vor wenigen Tagen im Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London. „Es gibt weiterhin Fälle, in denen gesamte russische Einheiten Befehle verweigern, und es kommt weiterhin zu bewaffneten Konfrontationen zwischen Offizieren und Soldaten“, so die Mitteilung weiter. Hintergrund für die niedrige russische Moral seien unter anderem eine als schlecht wahrgenommene Führung, begrenzte Möglichkeiten zur Ablösung von der Front, sehr schwere Verluste, Stress, schlechte Logistik und Probleme mit der Bezahlung. „Natürlich gibt es auch auf ukrainischer Seite Verluste und die Moral wird dadurch nicht besser“, sagt der Kieler Sicherheitsexperte Joachim Krause. „Aber für die meisten ukrainischen Soldaten ist klar, dass sie keine andere Wahl haben als gegen den Aggressor zu kämpfen.“

USA kündigen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine an

Die USA kündigten unterdessen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine im Umfang von 450 Millionen Dollar (etwa 428 Millionen Euro) an. Dazu gehörten auch Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme und Patrouillenboote, sagte ein hochrangiger Vertreter des Weißen Hauses, John Kirby. Die USA haben dem von Russland angegriffenen Land in den bisherigen vier Kriegsmonaten nach eigenen Angaben Waffen und Ausrüstung im Wert von rund 6,1 Milliarden Dollar zugesagt oder bereits geliefert. Die Regierung in Kiew bittet um mehr moderne Waffen, um die militärische Überlegenheit russischer Truppen einzudämmen. (mit dpa)

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