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Foto: Marcus Merk
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Jahrelang wurden Kinder und Jugendliche im Kinderheim in Reitenbuch missbraucht. Der Abschlussbericht über die Vorfälle schlägt Wellen. 

Fischach-Reitenbuch
16.09.2021

Missbrauch im Kinderheim: "Es tut in unseren Herzen weh"

Von Maximilian Czysz

Plus Jetzt sprechen die Verantwortlichen des Trägervereins Klartext zu den Vorfällen zwischen 1950 bis 2004 im Josefsheim Reitenbuch und dem Marienheim Baschenegg. Sie sichern den Opfern Hilfe zu.

Nach den Dillinger Franziskanerinnen bitten jetzt auch die Verantwortlichen der Christlicher Kinder- und Jugendhilfe die Betroffenen von körperlicher und sexueller Gewalt in den Kinderheimen von Reitenbuch und Baschenegg um Verzeihung. In einer Erklärung nehmen Domkapitular Dr. Andreas Magg sowie der gesamte Vorstand des Trägervereins Stellung und sprechen Klartext.

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"Wir sind zutiefst beschämt über das, was in unseren Einrichtungen Kindern und Jugendlichen angetan wurde. Es tut in unseren Herzen weh zu erfahren, welche grausame psychische, körperliche, seelische und sexuelle Gewalt den Betroffenen zugefügt wurde." Weiter heißt es: "Wir wissen, auch wenn wir es selbst letztlich nicht nachspüren können, dass durch diese Gewalt in diesen Kindern und Jugendlichen das zum Absterben kam, für was wir als Christliche Kinder- und Jugendhilfe eigentlich stehen wollen: für eine unbeschwerte Kindheit und Jugend, für die Erziehung und Stärkung zu einem von Glück, Zuversicht, Freude und Vertrauen getragenem Leben."

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Domkapitular Andreas Magg und der Vorstand des Trägervereins sprechen nach der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle Klartext.

Das hätten sich auch viele Heimkinder gewünscht. Doch stattdessen wuchsen sie in einem Klima der Angst auf. Immer wieder gab es Gewalt durch Klosterschwestern, die damals die beiden Heime leiteten. Ruhestandsgeistliche vergingen sich an Buben. Leben wurden zerstört, viele Opfer sind noch heute traumatisiert. Auf das durch körperliche und sexuelle Gewalt entstandene Leid geht jetzt auch der Trägerverein ein.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Die Aufklärungskommission Nach der Berichterstattung unserer Redaktion im Jahr 2019 hat der damalige Diözesanadministrator und jetzige Bischof Bertram Meier eine Projektgruppe eingesetzt. Sie soll jegliche Fälle von körperlicher und/oder sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Josefsheim Reitenbuch und gegebenenfalls auch im Marienheim Baschenegg in Ustersbach "vorbehaltlos" aufklären.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Neben der ehemaligen Präsidentin des Landessozialgerichts, Elisabeth Mette, arbeiten zwei weitere frühere hochrangige Juristen mit: Manfred Prexl, ein ehemaliger Vorsitzender Richter des Münchner Oberlandesgerichts, und Bernhard Koloczek, der früher als Richter am Bundessozialgericht arbeitete.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Prof. Gerda Riedl vom Bischöflichen Ordinariat gehört ebenfalls zu dem Gremium. Der pensionierte Jurist Prexl hatte für das Bistum bereits eine Untersuchung zu Gewalt und sexuellem Missbrauch in einem Heim in Donauwörth geleitet.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Die Franziskannerinnen Als es zu den Vorfällen kam, waren die Dillinger Franziskanerinnen mit der Leitung der beiden Heime in Baschenegg und Reitenbuch beauftragt. Die Franziskanerinnen sind ein Orden päpstlichen Rechts, der damit nicht der diözesanen Dienst- oder Stiftungsaufsicht untersteht.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Die Franziskanerinnen hatten sich "beschämt und erschüttert" gezeigt, als vor knapp zehn Jahren erstmals Vorwürfe laut geworden waren. 2010 hatten mehrere ehemalige Heimkinder teils mit eidesstattlicher Versicherung über ihre Leidenszeit im Josefsheim berichtet.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Die Staatsanwaltschaft Augsburg leitete Vorermittlungen ein. Deren Ergebnisse sind nicht bekannt.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Das Heim heute Träger der Einrichtungen in Reitenbuch und Baschenegg ist heute die Christliche Kinder- und Jugendhilfe. Der Verein ist gemeinnützig und hat seinen Sitz in Augsburg. Vereinsvorsitzender ist Domkapitular Andreas Magg.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Der Trägerverein unterstützt nach eigenen Angaben die Arbeit der Projektgruppe "vollumfänglich" mit dem Ziel, eine "transparente und ehrliche Aufarbeitung aller Vorwürfe" zu erreichen. Dass die Missstände nicht schon früher aufgeklärt wurden, sei ein "schweres Versäumnis", erklärt Diözesan-Caritasdirektor Andreas Magg.

Was ist im Kinderheim Reitenbuch passiert?

Magg spricht von "regelrechten Prügelattacken" und "religiöser Strenge", die nicht mehr ungeschehen gemacht werden könne. Heute könne man nur "für jegliche Form von erfahrener körperlicher und sexueller Gewalt um Vergebung bitten". (mcz, kinp)

Verantwortliche bitten die Betroffenen um Vergebung

Wörtlich heißt es: "Wir bedauern zutiefst dieses Leid. Uns belastet es sehr, dass die Betroffenen seit so vielen Jahren ihr Leid auf ihren Schultern und in ihren Seelen tragen mussten und immer noch müssen."

Die Verantwortlichen des Vereins bitten um Vergebung. Sie hoffen, dass die Betroffenen das Bemühen um Aufklärung und um Strukturen und Maßnahmen, wie auch persönliche Fortbildung und Sensibilisierung, anerkennen und vielleicht auch als Anlass erkennen, die "Vergebungsbitte" anzunehmen. Jeder müsse sich der Schuld stellen. Diese hätten alle Verantwortlichen auf sich geladen. Sei es durch strukturelle Sorglosigkeit, durch falsches Vertrauen, durch ein völlig falsches Erziehungsideal, durch Wegschauen oder durch mangelhafte pädagogische Aufsichts- und Sorgfaltspflicht.

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Die Verantwortlichen reden auch Klartext, was mögliche Erklärungsversuche angeht. "Die Schwere der Taten ist durch nichts zu entschuldigen, weder durch eine angenommene Nichtzuständigkeit noch durch eine wie auch immer geartete Überlastung, fehlende pädagogische Konzepte oder durch einen wie auch immer gearteten Hinweis auf frühere Erziehungsmethoden."

"Aller Schuld und aller Versagen"

In Bezug auf das mit den Dillinger Franziskanerinnen und der Diözese Augsburg abgegebene Versprechen, dass Kinder und Jugendliche unter dem schützenden Dach einer kirchlichen Gemeinschaftsarbeit gut aufgehoben sind, heißt es: "Wir haben damit auch ein Versprechen gemäß unserem christlichen Glauben abgegeben, dass wir auch bei allen Belastungen, Streitfragen, Sorgen und Nöten eines niemals tun würden, nämlich unseren Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche zu verraten. Das ist aber bei uns geschehen – in unseren Häusern, mitten in unserer Gemeinschaft. Das ist unser aller Schuld und unser aller Versagen."

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Foto: Marcus Merk (Archiv)
Foto: Marcus Merk (Archiv)

Im Kinderheim Reitenbuch gab es seit 1950 immer wieder Übergriffe.

Trägerverein will sich finanziell an Entschädigung beteiligen

Der Trägerverein gibt auch zwei Versprechen ab: Er beteilige sich "selbstverständlich" über die Diözese Augsburg an den finanziellen Anerkennungsleistungen. Außerdem "beteiligen sich unsere Einrichtungen an der Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche in Augsburg als externe Ansprechstelle". Es seien in den Einrichtungen der Christlichen Kinder- und Jugendhilfe – in enger Abstimmung mit den Aufsichtsbehörden und den Jugendämtern – die strukturellen, personellen und pädagogischen Voraussetzungen geschaffen worden, damit es zu solchen Formen der psychischen, körperlichen, seelischen und sexuellen Gewalt nicht mehr kommen könne. Ganz zentrale Instrumente dafür seien "moderne, zeitgemäße pädagogische Konzeptionen mit einer systematischen Partizipation der betreuten Kinder und Jugendlichen im Sinne eines Schutzkonzepts".

Kirche setzt Expertenkommission ein

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Foto: Marcus Merk
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Mitte September stellte die Expertengruppe, die die Fälle von körperlicher und sexueller Gewalt an Kinden und Jugendlichen im Josephsheim Reitenbuch und Marienheim Baschenegg dokumentiert hat, ihren Abschlussbericht vor.

 

Nach der Berichterstattung unserer Redaktion setzte die Kirche vor zwei Jahren eine Expertenkommission ein. Sie sollte klären, was wirklich in den beiden Heimen passiert ist. Domkapitular Magg stand von Anfang an hinter der Aufklärungsarbeit. Er sprach damals angesichts der Berichte von einem "System Reitenbuch". Fast 40 Betroffene schilderten gegenüber der Kommission, was damals in den Heimen passiert war. Im Abschlussbericht geht es auch um die Frage, warum es immer wieder zu Übergriffen kommen konnte.

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