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Oettingen: Warum die Firma Lessmann nach der Wende nicht im Osten investierte

Oettingen

Warum die Firma Lessmann nach der Wende nicht im Osten investierte

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    Die Firma Lessmann sitzt in Oettingen. Die beiden Geschäftsführer Dieter schwarzes Hemd und Jürgen Lessmann sind stolz auf die Entwicklung ihrer Firma.
    Die Firma Lessmann sitzt in Oettingen. Die beiden Geschäftsführer Dieter schwarzes Hemd und Jürgen Lessmann sind stolz auf die Entwicklung ihrer Firma. Foto: Matthias Zimmermann

    Es ist Sommer 1991. Die Mauer ist weg, Deutschland politisch wiedervereinigt, die "neuen Länder" für die meisten im ehemaligen Westen aber noch immer unbekanntes Terrain, eine Mischung aus wilder Westen und gruseligem Themenpark. Jürgen und Dieter Lessmann wissen schon etwas mehr. Als sie ins Auto steigen und Richtung Osten aufbrechen, haben sie ihre Fühler längst ausgestreckt…

    Schnitt. Die gleichen Personen fast dreißig Jahre später. Die beiden Brüder führen nun seit fast drei Jahrzehnten zusammen den Oettinger Bürsten-Spezialisten Lessmann. Jürgen, 62, der Ältere und studierte Wirtschaftsingenieur, kümmert sich um alles Technische und Dieter, 61, der studierte Betriebswirt, um das Kaufmännische. Damals waren sie eben erst in das Unternehmen eingestiegen, das ihr Großvater nach dem Krieg gegründet und ihr Vater danach weitergeführt hatte. Plötzlich stellte sich den Jungunternehmern die gleiche Frage wie ungezählten anderen Firmenchefs aus den alten Bundesländern: Sollten sie nun die Chance nutzen, um im ehemaligen Osten zu investieren? War der historische Umbruch die Gelegenheit, die man nur einmal im Leben bekommt?

    Jedenfalls wollten sich Jürgen und Dieter Lessmann die Sache vor Ort genauer ansehen, wie sie jetzt in einem kleinen Besprechungsraum mit Panoramablick in ihre Produktionshalle erzählen. Ein Stockwerk tiefer stapeln sich blaue Kisten mit kleinen Handbürsten und runden Bürsten in verschiedenen Größen. Dünne Stahlseile laufen von Dutzenden Rollen in kastenförmige Maschinen. Man sieht nur wenige Menschen, die ruhig und konzentriert arbeiten.

    Besichtigungsfahrt in die DDR: Wie eine Reise in die Vergangenheit

    Schnitt zurück. Jürgen und Dieter Lessmann wissen, es gibt da ein ehemaliges Kombinat im Osten, das ihrem Betrieb schon vor der Wende das Leben schwer gemacht hat. Hochsubventioniert produzierte man dort zu DDR-Zeiten Drahtbürsten, die über einen Händler im Westen auf den Markt kamen – und die Preise gehörig verdarben. Im Umkehrfluss flossen die dort dringend benötigten Devisen Richtung Osten. Dieser Betrieb in Spremberg in Brandenburg ist nun zu haben. Es wird eine denkwürdige Reise für die beiden Brüder...

    Mit im Auto saßen noch ihr Vater sowie der damalige Betriebsleiter, erinnert sich Dieter Lessmann heute: "Mein Bruder hatte damals einen neuen BMW. Wir haben sieben Stunden gebraucht für eine Strecke, die man heute in vier fährt. Als wir ankamen, hatten wir den Eindruck, dass über allem ein bräunlicher Schleier liegt. Die Luft roch nach Braunkohle, überall Kopfsteinpflaster, an den Häusern fiel der Putz ab. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Vor Ort empfingen uns die Geschäftsführer und die Betriebsratsvorsitzende. Die hatte bei unserem Gespräch zwei Wünsche an uns: Erstens wollte sie unbedingt eine Runde in dem BMW mitfahren. Und zweitens sollten wir auf einen der Geschäftsführer einwirken, dass er aufhören sollte, politisch zu agitieren.

    Die Firma Lessmann auf einen Blick

    Kennzahlen Die Lessmann GmbH beschäftigt im Stammwerk in Oettingen rund 240 Personen, dazu gibt es noch ein Zweigwerk in Solingen mit sieben Beschäftigten. Umgerechnet entspricht das etwa 210 Vollzeitarbeitsstellen. Der Umsatz lag zuletzt bei rund 25 Millionen Euro.

    Produkte Lessmann produziert technische Bürsten, vorwiegend für die metallverarbeitende Industrie und Werkzeughändler. Technische Bürsten dienen meist dazu, einen vorgelagerten Produktionsschritt nachzubessern, etwa durch entgraten oder das Entfernen einer Beschichtung.

    Geschichte Gegründet hat das Unternehmen Johann Lessmann, der Großvater der heutigen Geschäftsführer Dieter und Jürgen Lessmann, der als Flüchtling aus dem Sudetenland 1946 in Oettingen landete. 1954 baute die Familie dort die erste kleine Fabrik und ein Wohnhaus. 1963 starb der Gründer, und sein Sohn, Edgar Lessmann, der bereits im Unternehmen gearbeitet hatte, übernahm. Jürgen Lessmann trat 1989 ins Unternehmen ein, sein jüngerer Bruder Dieter folgte ihm 1990. Zusammen formten sie das Unternehmen zu einem der führenden Bürstenhersteller Europas.

    Märkte Deutschland ist mit rund 60 Prozent wichtigster Markt für Lessmann. Die wichtigsten Auslandsmärkte sind USA, Mexiko und Großbritannien. Rund ein Viertel der Produktion geht an Industrie-Endverbraucher, 75 Prozent in den Fachhandel.

    Zukunft Zehn Millionen Bürsten oder umgerechnet 40.000 Stück pro Tag verlassen derzeit die Firma. Aktuell erweitert Lessmann den Firmensitz in Oettingen um ein neues Verwaltungsgebäude mit 580 Quadratmetern Grundfläche. Zudem wurde ein Millionenbetrag in neue Maschinen investiert. (maz)

    Die Lessmanns sind dann noch öfter vor Ort. Kaufen wollen sie den Betrieb schließlich nicht. Nicht sanierbar. "Die brauchten dreimal so viel Personal wie wir, um eine Bürste herzustellen", sagt Dieter Lessmann. Doch das ist nicht alles, wie Jürgen Lessmann ergänzt: "Es ist völlig egal, was sie studieren. Einen Betrieb ordentlich zu führen lernen sie nicht an der Uni. Da hatten wir als junge Geschäftsführer genügend zu tun." Zudem biegt der Bau einer neuen Lager- und Umschlagshalle gerade in die Zielgerade. Kurz: Es ist der falsche Moment und die beiden Brüder trauen es sich schlicht nicht zu. Eine Entscheidung mit Folgen. Denn wider Erwarten kann sich der Betrieb in Brandenburg retten – und macht ihnen das Leben nun erst recht schwer.

    Unternehmensberater empfahlen die Verlagerung nach Tschechien

    "Wir hatten einen riesigen Kredit an der Backe, wir waren junge Anfänger, der Vater ist ausgestiegen und dann ist uns der Markt zusammengebrochen", erinnert sich Dieter Lessmann. Plötzlich waren es die Unternehmer aus dem Westen, die um ihre Firma kämpfen müssen. Kurzarbeit im Betrieb, dazu eine Unternehmensberatung im Haus, die mit Kritik an der bisherigen Aufstellung der Firma nicht spart – und zur Rettung des Betriebs die Verlagerung der Produktion nach Tschechien empfiehlt...

    Schnitt. Kurzarbeit hatte Lessmann im Jahr 2020 auch. Zumindest im Hauptwerk in Oettingen wird aber seit August wieder ganz regulär gearbeitet. Sonst hat die Firma Lessmann nicht mehr viel gemein mit dem Betrieb von vor 30 Jahren. Einfache Bürsten für Handwerker macht Lessmann noch immer. Überleben und zu einem der Technologieführer in ihrer Branche werden konnte die Firma aber mit Spezialbürsten für die Industrie. Schnittkanten von Rohren werden mit Lessmann-Bürsten entgratet. Das Profil erneuerter Lkw-Reifen aufgeraut. Aber auch Unkräuter auf Firmenparkplätzen oder öffentlichen Plätzen entfernt. "Unsere Kunden kommen nicht zu uns mit der Frage nach einer Bürste, sondern mit einer Entgrataufgabe", erklärt Dieter Lessmann den grundsätzlichen Entwicklungsschritt, den die Firma durchgemacht hat.

    Bei einem Rundgang durch die Produktion kann Jürgen Lessmann mit spürbarer Begeisterung jede der Maschinen erklären, die das erst möglich gemacht haben. Bei den wichtigsten war er in der Entwicklung selbst beteiligt. "Wir haben für uns festgelegt, wir gehen nicht der Produktionskosten wegen ins Ausland. Wenn wir ein Produkt in Deutschland nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen herstellen können, stellen wir es nicht her – oder wir müssen uns überlegen, wie wir es trotzdem können", sagt Jürgen Lessmann. Vollautomatisch, wenn es geht. Auch in Corona-Zeiten hat sich diese Strategie bewährt.

    Kein Bedauern also, damals im Osten nicht investiert zu haben? "Wir mussten durch ein Tal, das tränenreich war. Aber am Ende war es die bessere Strategie", sagt Dieter Lessmann.

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