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Foto: Carsten Rehder, dpa
Foto: Carsten Rehder, dpa

Probanden aus Impfstoff-Studien bekommen entweder das Vakzin oder ein Placebo verabreicht. Letztere müssen voraussichtlich lange auf eine echte Impfung warten.

Corona-Impfstoff
01.12.2020

Placebo-Probanden müssen lange auf eine Corona-Impfung warten

Von Jonathan Lindenmaier

Ausgerechnet die Menschen, die einen Impfstoff möglich machen, werden erst spät geimpft: Probanden aus einer Placebo-Studie. Kann das gerecht sein?

Medizin und Ethik liegen oft nahe zusammen. Die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs macht das besonders deutlich. So muss vor allem geklärt werden, wer als erstes geimpft werden soll. Klar ist jetzt schon: Eine Gruppe von Menschen wird den Impfstoff definitiv erst spät bekommen. Diejenigen nämlich, die an der Erprobung teilgenommen und ein Placebo erhalten haben.

Sie erfahren wohl erst über ein Jahr nach der Verabreichung, dass sie nicht den echten Impfstoff erhalten haben. In dieser Zeit werden sie voraussichtlich nicht geimpft. Damit sollen Langzeitfolgen des Vakzins geprüft werden. Ethisch ist das schwierig, medizinisch aber unumgänglich.

 

Auch nach einer eventuellen Zulassung des Impfstoffs laufen die Studien weiter

Die Erprobung eines möglichen Impfstoffs am Menschen läuft in drei Phasen ab. Zunächst wird in einer kleinen Gruppe die Verträglichkeit getestet, dann in einer etwas größeren die Immunität und in der dritten und finalen Phase wird an einer großen Fallzahl die Wirksamkeit untersucht.

Diese errechnen Experten anhand zweier Test-Gruppen. Die Studienteilnehmer werden aufgeteilt in zwei gleich große Parteien, die Wirkstoffgruppe bekommt den Impfstoff, die Kontrollgruppe ein Placebo. Die Wissenschaftler dokumentieren die Covid-19-Fälle in beiden Gruppen. Letztlich wird die Zahl der Fälle verglichen und die Wirksamkeit in Prozent errechnet. Wenn also von insgesamt 100 Fällen 50 in der Kontrollgruppe aufträten, hätte der Impfstoff eine Wirksamkeit von 50 Prozent. Im konkreten Fall von Biontech waren es insgesamt 170 Fälle. Davon 162 in der Placebo-, 8 in der Wirkstoff-Gruppe. Wirksamkeit: Etwa 95 Prozent.

Außerdem prüfen die Wissenschaftler, wie schwer eine Erkrankung verläuft, wie viele Todesfälle bei Geimpften und bei Nicht-Geimpften auftreten oder wie lange es in beiden Gruppen bis zur Genesung dauert. Auch nach einer eventuellen Zulassung laufen die Studien noch weiter, um mehr über die Wirksamkeit und auch über mögliche Nebenwirkungen zu erfahren.

Die Placebo-Gruppe muss mit einer möglichen Covid-19-Erkrankung rechnen

Das beinhaltet Risiken für beide Gruppen. Die Impfstoff-Probanden müssen mit möglichen Nebenwirkungen rechnen. In der Regel sind die aber unerheblich. So klagten in der Biontech-Studie nach Angaben des Unternehmens etwa vier Prozent der Probanden über Müdigkeit, zwei Prozent litten an Kopfschmerzen. Beide Symptome traten kurz nach der Impfung auf. Sie hielten aber nicht länger an.

Die Placebo-Gruppe andererseits muss mit einer möglichen Covid-19-Erkrankung rechnen. Von den insgesamt 170 Infizierten aus der Biontech-Studie, erlitten 10 einen schweren Verlauf. Neun davon in der Placebo-Gruppe. Auch nach einer Zulassung müssen die Probanden mit dem Risiko leben.

Erst nach einem Jahr sollen die Teilnehmer erfahren, ob ihnen der Impfstoff oder nur ein Placebo gespritzt wurde. So empfiehlt es die Europäische Arzneimittelbehörde. „Diese Langzeitdaten sind wichtig, um späte Nebenwirkungen zu dokumentieren und festzustellen, ob der Schutz gegen die SARS-Cov-2-Krankheit im Laufe der Zeit nachlässt“, schreibt die EMA. Diese Daten müssten auch erhoben werden, wenn bereits eine Genehmigung für den Impfstoff vorliege, so die Behörde.

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Internationale Übereinkünfte regeln die Rahmenbedingungen medizinischer Studien

„Das ist sicherlich ein ethisches Problem. Speziell wenn Sie jetzt mal dran denken, dass man auch Menschen mit hohem Risiko für schwere Erkrankungen in diesen Studien untersucht“, sagt Professor Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut. So müssten insbesondere auch Menschen über 65 Jahre sowie Probanden mit Vorerkrankungen in die Studie mitaufgenommen werden, um den tatsächlichen Schutz des Impfstoffes zu bestimmen. „Es verzerrt die Studie enorm, wenn nur junge und gesunde Menschen in der Placebo-Gruppe sind.“

Für solche Erprobungen gibt es eine Reihe von internationalen Übereinkünften. Sie sollen die Rahmenbedingungen für medizinische Studien regeln. Die bekannteste ist die Deklaration von Helsinki. Sie wurde 1964 vom Weltärztebund verabschiedet und in den Folgejahren immer wieder überarbeitet. Das ethische Dilemma solcher Studien war den Unterzeichnern der Deklaration durchaus bewusst. Dort heißt es: „Die medizinische Praxis und Forschung ist in der Regel mit Risiken und Bürden verbunden. Medizinische Forschung an menschlichen Probanden darf nur durchgeführt werden, wenn die Bedeutung des Ziels die Risiken und Bürden für die Probanden überwiegt.“

Und es sind nicht gerade wenige Menschen, die mit den Risiken der Erprobung zu kämpfen haben. Aktuell befinden sich laut dem Verband forschender Pharmaunternehmen acht Impfstoffe in der dritten Phase ihrer Erprobung, jeweils mit 10.000 bis 60.000 Probanden. In den kommenden Monaten dürften weitere folgen. Bei globalen Corona-Infektionszahlen von über 63 Millionen sowie etwa 1,5 Millionen Toten überwiegt jedoch „die Bedeutung des Ziels“.

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Pfizer plant, Probanden aus der Placebo- in die Impfstoff-Gruppe zu transferieren

Die Verfasser der Deklaration von Helsinki betonten aber, dass die Erprobung mit Placebo-Gruppen nur eine Ausnahme sein darf. Sie soll nur dann eingesetzt werden, wenn bisher kein Impfstoff gegen die Krankheit vorliegt. Andernfalls solle die Erprobung eines neuen Impfstoffs nicht mit einem Placebo durchgeführt werden, sondern im Vergleich zu einem bereits bestehenden Vakzin.

Ähnlich äußert sich Thomas Mertens: „Sollte ein Impfstoff zugelassen werden, scheint es mir aus ethischen Gesichtspunkten angezeigt zu sein, dass man einen neuen Impfstoff nicht mehr im Verhältnis zu einer Placebogruppe untersucht, sondern zum bestehenden Impfstoff.“ Einzige Ausnahme: Eine kleine Placebo-Gruppe müsste erhalten bleiben, um mögliche Nebenwirkungen zu testen. Treten diese bei der Impfstoff-Gruppe ebenso häufig auf wie in der Placebo-Gruppe, ist der neue Impfstoff wohl nicht die Ursache für die Beschwerden.

„Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass eine Studie vorzeitig geöffnet wird. Zum Beispiel dann, wenn man feststellt, dass eine neue Medikation so erfolgreich ist, dass man sie den Menschen in der Placebo-Gruppe nicht vorenthalten kann“, sagt Mertens. Das soll in der Erprobung des Impfstoffs von Pfizer und Biontech geschehen. Die Fachzeitschrift Nature berichtete, Pfizer plane bereits, einige Menschen aus der Placebo- in die Impfstoff-Gruppe zu transferieren. Das sei nachvollziehbar, sagt Mertens, jedoch nur in einem begrenzten Rahmen möglich. Würden zu viele Probanden in die Impfstoff-Gruppe wechseln, könne das die Ergebnisse der Studie stark verzerren.

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