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Augsburg: Trotz Kirchenasyl abgeschoben: Das Schicksal einer Familie

Augsburg

Trotz Kirchenasyl abgeschoben: Das Schicksal einer Familie

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    Die Ukraine ist auch hier ein Thema. In diesem schäbigen, aber warm geheizten Wohnzimmer im polnischen Bialystok. Ein Thema, das Angst macht. Eine diffuse Angst vor einer theoretischen Bedrohung aus dem Südosten. Aus derselben Himmelsrichtung waren auch sie, eine Gruppe tschetschenischer Frauen, in die Europäische Union geflohen. In dem Wohnzimmer haben sie sich versammelt, um ihr Leid zu klagen.

    Eine der ihren ist gerade aus Deutschland zurückgekehrt. Jetzt hat sie Besuch von dort: Sechs Männer und Frauen aus Augsburg, eine Journalistin unter ihnen. Eine Gelegenheit, der Welt zu sagen, wie furchtbar die Zustände in Tschetschenien sind und wie unsicher sich die Flüchtlinge auch in Polen fühlen. Auf Fotos darf man sie nicht erkennen, ihre richtigen Namen dürfen nicht veröffentlicht werden. Das sei zu gefährlich, sagen sie – für sie und für ihre Verwandten zu Hause. Alle Tschetschenen fürchten den langen Arm des russlandhörigen Diktators Kadyrov, der ihre Heimat im Nordkaukasus beherrscht. „Jeden Tag verschwinden Menschen“, sagt Marina, die Wortführerin. Ihre Stimme ist schrill, sie übertönt alle im Raum. Zwei Männer habe sie in Tschetschenien verloren. Mit dem zweiten sei sie acht Wochen verheiratet gewesen. „Dann haben sie ihn abgeholt und umgebracht“, klagt sie und bricht in Tränen aus.

    Von sich aus erzählt Elvira Musaeva nichts

    Viele reden. Nur die Gastgeberin sitzt da wie erstarrt. Die Arme verschränkt, die Lippen fest zusammengepresst. Gerade drei Wochen ist die 39-Jährige mit ihren vier Kindern aus Augsburg zurück– abgeschoben aus dem Kirchenasyl in der Pfarrei St. Peter und Paul. Eine schmale Frau, dunkle Ringe unter den Augen. Sie wirkt zerbrechlich. An ihr hat die Ausländerbehörde ein Exempel statuiert. Elvira Musaeva sollen wir sie in der Zeitung nennen.

    Bei der Ankunft der Besucher hatte Elvira für Momente glücklich ausgesehen. Herzliche Umarmungen, ein großes Hallo. Jetzt ist das Aufleuchten wieder erloschen. Die Frau wirkt bedrückt. Die anderen sprechen davon, dass Rechtsradikale in Polen die Tschetschenen drangsalieren und sie als „Zigeuner“ beschimpfen. Elvira schweigt. Sie verschließt sich wieder. So hatten sie sie vor einem halben Jahr erlebt. „Wir hatten Angst, dass sie vom Balkon springt“, sagt Georg Heber, 32, einer der führenden Köpfe des Augsburger Grandhotels. Jenem Hotel im Domviertel, das „Gäste mit und ohne Asyl“ mit derselben Gastfreundlichkeit beherbergt – die einen als normale Hotelgäste, die anderen in Zimmern, die die Regierung von Schwaben als Gemeinschaftsunterkunft angemietet hat.

    Ein Gutachten attestierte Elvira damals eine posttraumatische Belastungsstörung. Wer ihre Geschichte erfahren will, muss ihr auch jetzt wieder jeden Satz abringen. Von sich aus erzählt sie nichts. Weder von dem Brandanschlag auf die Wohnung einer Freundin in Bialystok, noch von ihrer panischen Abreise mit dem Bus nach Deutschland. Es war ihre dritte Flucht seit 2007. Damals war sie mit ihrem Mann und vier Kindern zum ersten Mal nach Polen gekommen. In Bialystok wurde auch die jetzt dreijährige Nurja geboren. Doch das vermeintliche Familienglück war am Ende ein Albtraum. Der Ehemann verkraftete seine Lage als Flüchtling nicht. Er verfiel dem Alkohol und schlug seine Frau.

    Der Mann prügelte Elvira immer weiter

    Die Familie kehrte zurück nach Tschetschenien, in der Hoffnung, dass seine Eltern ihm wieder Halt geben könnten. Doch er prügelte weiter. In ihrer Verzweiflung entschied sich Elvira, ihn zu verlassen und mit den vier jüngeren Kindern zurückzugehen nach Polen. Ein Risiko in einer islamischen Gesellschaft. Der Älteste blieb beim Vater. „Er hat sich geopfert, damit mein Mann mich in Ruhe lässt“, sagt Elvira. Aber sie hat Angst, große Angst um den Sohn. Denn in Tschetschenien rekrutieren die Islamisten Kämpfer für Syrien. Bei jedem Telefonat fleht Elvira den Jungen an, sich nicht überreden zu lassen.

    Die dreijährige Nurja ahnt von all dem nichts. Sie sitzt unter dem Tisch und drückt unbekümmert auf einen Knopf ihrer Kinderkamera. Musik platzt in die traurige Stimmung. Auf dem Display sieht man Leute tanzen – aufgenommen bei einem Fest in Augsburg. Nurja lacht.

    Es ist Zufall, dass Elvira und ihre Kinder nach der Registrierung im zentralen Erstaufnahmelager in Zirndorf im Juli 2013 dem Grandhotel zugewiesen werden. Elvira und die Zwillinge Alik und Milana, 15, Mohmad, 11, und Nurja, 3, leben sich in Augsburg ein und fangen an, wieder Vertrauen zu fassen. Dann werden sie nach Polen „rücküberstellt“, wenige Tage vor Ablauf einer Halbjahresfrist, die ihr Bleiben in Deutschland ermöglicht hätte.

    Polen ist für die Familie zuständig

    Polen ist für sie zuständig, weil sie dort in die Europäische Union eingereist waren. Das schreibt das zum dritten Mal novellierte Dublin-Abkommen vor. In Polen genießen sie subsidiären Schutz. Das heißt, für sie greift nicht das Asylrecht. Aber sie dürfen befristet bleiben, weil ihnen in Tschetschenien schwerwiegende Gefahren für Freiheit, Leib und Leben drohen.

    In einer gewöhnlichen Gemeinschaftsunterkunft hätte von ihrer Abschiebung aus Deutschland wohl kaum jemand Notiz genommen. Im Grandhotel aber ist jeder Teil einer Gemeinschaft. Es entstehen Beziehungen, die mit einem ordnungspolitischen Akt nicht zu kappen sind.

    Leo Breitmeier, 35, der ebenfalls im Grandhotel aktiv ist, erinnert sich noch gut an seine erste Begegnung mit Elvira. Er stellte sich als Russischdolmetscher im Grandhotel vor, dann redeten sie stundenlang. Er, der Russlanddeutsche, der 1993 als 14-Jähriger aus Kasachstan nach Schwaben kam, und sie, die Tschetschenin, die etwa zur gleichen Zeit in ihrer Heimat unter dem Krieg litt, weil Russland die Unabhängigkeit Tschetscheniens nicht akzeptierte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte in ihrer beider Leben die entscheidende Wendung gebracht. Ähnliche Erfahrungen verbinden. Und beide wissen, was es heißt, ausgegrenzt zu werden. Er als Deutscher in Kasachstan, dann als „Russe“ in Deutschland, sie als unerwünschte Tschetschenin in Polen.

    Im Grandhotel will man Elvira nicht aus den Augen verlieren

    Was dann in Augsburg mit Elvira und ihren Kindern passierte, hat alle im Grandhotel aufgewühlt. Dass man sie morgens um sechs von der Polizei im Pfarrhaus abholen lässt, und es dann auch noch heißt, sie seien „freiwillig“ mitgegangen – unfassbar für die Aktiven vom Grandhotel. Aber sie gaben nicht auf, knüpften Kontakte zu Organisationen nach Polen. Sie wollten Elvira nicht aus den Augen verlieren. Deshalb sind sie 1300 Kilometer weit bis nahe an die weißrussische Grenze gereist. Pfarrer Karl Mair, 73, stellte den Kleinbus zur Verfügung, den sie mit Geschenken und Gebrauchsgegenständen vollpackten. Der Geistliche ist tief betroffen, dass er seine Schützlinge nicht vor der Abschiebung bewahren konnte. Am liebsten hätte er seinen mitreisenden Freund, den Diakon im (Un-)Ruhestand Franz Tirel, 65, beauftragt, die Familie zurückzuholen. Es gibt ja, wie berichtet, jetzt eine Zusicherung des Innenministers, dass das Kirchenasyl künftig wieder respektiert wird. Aber er bekam die Auskunft, dass das Menschenhandel sei.

    Es wäre ja leicht, sie über die offene Grenze mitzunehmen. Die polnische Autobahn ist neu ausgebaut und – wohl wegen der Maut – wenig befahren. Manche Tschetschenen legen die Strecke nach Berlin mit Schleusertaxis zurück und zahlen horrende Summen. Für Elvira käme das nicht infrage. Für sie gibt es erst einmal kein Zurück aus der Sackgasse. Die Augsburger wollen es ihr dort in Polen ein wenig leichter machen. Georg Heber und Leo Breitmeier hatten die Idee, die Wände zu streichen. Aber die Zwei-Zimmer-Wohnung in einem zehnstöckigen Mietshaus ist in ordentlichem Zustand. Ein Glücksfall, dass sie frei wurde. Die vorherige Mieterin war gerade nach Deutschland ausgereist.

    Das Problem ist nur, dass die Miete von 1200 Zloty (rund 290 Euro) fast alles aufbraucht, was die Familie vom polnischen Staat bekommt. Milch und Mehl solle man ihr mitbringen, hatte Elvira gebeten, das sei teuer in Polen. Sie beschließen, Lebensmittel in Bialystok zu kaufen. Im Supermarkt gleich um die Ecke im Zentrum der 300 000-Einwohner-Stadt gibt es alles, was es auch bei uns gibt, zu ähnlichen Preisen. Der Einkauf ist für Elvira ein bisschen wie Weihnachten. Mit Taschen voller Kartoffeln, Gemüse, Salat, Hühnchenfleisch und natürlich auch Milch und Mehl kehren sie heim. Dann wird gekocht. Als der Gemüseeintopf gegart und die Hühnchen gebraten sind, freuen sich die Gäste auf das gemeinsame Essen mit der Familie.

    Doch daraus wird nichts. Nur die Gäste bekommen zu essen. Nicht die Hausfrau, nicht die Kinder. Ihnen bleibt später nur das, was übrig ist. So ist es Brauch bei den Tschetschenen. Auch Marina hält sich an diese Regel. Die Frau mit der schrillen Stimme lädt die Augsburger am nächsten Tag zum Essen ein. Sie sei Köchin mit Diplom, sagt sie. Und so schmeckt das Essen auch. Es fehlt an nichts – Gemüse, Fleisch, Süßigkeiten. In einem Nebensatz erfahren die Gäste allerdings, dass das, was da so üppig aufgetischt ist, der Familie bis zum 20. März reichen muss.

    Im Hafen von Danzig soll es illegale Jobs geben

    Für einen Hungerlohn geht Marina putzen, ihr Sohn, der auf einem Auge blind ist, hat trotz seiner abgeschlossenen Ausbildung als Automechaniker keine Arbeit. Die Tschetschenen dürfen zwar nach sechs Monaten Aufenthalt in Polen arbeiten. Aber sie finden kaum Jobs. Nur im Hafen von Danzig soll es illegale Beschäftigungen geben – für weniger als einen Euro pro Stunde.

    Die Arbeitslosenquote in Polen liege bei 13 Prozent, im Osten noch höher, heißt es bei der Stiftung „Edukacji i Twórczosci“. Und wer Arbeit hat, verdiene zumeist weniger als 2000 Zloty (rund 480 Euro). Die Organisation kümmert sich um die etwa 500 Tschetschenen in Bialystok, vermittelt Wohnungen, versorgt sie im Notfall mit Lebensmitteln und Kleidung. „Wir tun, was wir können für die Tschetschenen. Aber die wollen alle nach Deutschland“, sagt Katarzyna Potoniec lächelnd. Die meisten versuchen es auch – und viele kommen zurück.

    Aber Bialystok soll eines Tages keine Sackgasse mehr sein. Georg Heber hat eine Idee. Er will tschetschenische und polnische Jugendliche einander näherbringen. Mit einem Parkour-Festival im Sommer. Elviras 15-jähriger Sohn Alik ist fit in diesem akrobatischen Sport. Das könnte auch den Polen gefallen.

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