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Kommentar: Im Leben wird die Pandemie eine Zäsur setzen, historisch nicht

Kommentar

Im Leben wird die Pandemie eine Zäsur setzen, historisch nicht

Richard Mayr
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    Ein Bild vom Anfang der Pandemiezeit: Feldbetten in einem Kongresszentrum in Wuhan.
    Ein Bild vom Anfang der Pandemiezeit: Feldbetten in einem Kongresszentrum in Wuhan. Foto: -/CHINATOPIX, AP/dpa

    Unseren Alltag hält die Pandemie fast zwei Jahre fest im Griff. Die fünfte Welle durch die Verbreitung der Omikron-Variante setzt gerade ein. Wie lange es noch dauern wird, bis das Ende der Pandemie erreicht ist und das Coronavirus zu einem weiteren Krankheitserreger von vielen geworden ist, kann noch nicht genau gesagt werden. Auf die Frage, was von der Corona-Pandemie bleiben wird, lassen sich aber jetzt schon Antworten geben.

    In den Biografien der Menschen wird sie eine Zäsur sein, eine Marke, mit einem Leben vor dem Ausbruch der Pandemie und einem Leben danach und dieser Zwischenphase, in der der Alltag ein völlig anderer war: im Privatleben und im Beruf, beim Sport oder in der Kultur, beim Shoppen oder Verreisen. Die Planbarkeit des Lebens ging von einem Moment auf den anderen verloren. Dazu kamen Sperrstunden, Lockdowns, verwaiste Innenstädte – und dann auch die Masken, die plötzlich die Gesichter verdeckten. Außerdem haben sich Millionen Menschen im Land mit dem Virus angesteckt, viele sind gestorben. All das sind Erfahrungen, die sich tief in Biografien eingraben und nicht so schnell vergessen werden.

    Die Pandemie wird einen Eintrag als Naturkatastrophe bekommen

    Wenn das Augenmerk allerdings nicht auf den Einzelnen und das eigene Erleben gerichtet wird, sondern auf das Ganze, wenn es um die historische Bedeutung der Corona-Pandemie geht, wird deren Stellenwert im Gegensatz zur persönlichen Beurteilung mit einigem Abstand nicht so groß sein. Durch staatliche Maßnahmen zur Eindämmung und später die sehr wirksamen Impfstoffe ist die hohe Sterblichkeitsrate vor allem bei den älteren Menschen gesenkt worden. Die Übersterblichkeit hielt sich dadurch in Grenzen. Wie es ausschaut, werden sich auch die Volkswirtschaften eher kurz- als mittelfristig wieder von den Einbrüchen durch Corona erholen. Die Pandemie wird in den Geschichtsbüchern einen Eintrag als weltweite Naturkatastrophe bekommen, die zwei oder drei Jahre lang das Leben der Menschen bestimmt hat. Aber das hat mehr episodischen Charakter und markiert nicht den Anfang einer neuen historischen Entwicklung.

    Was Historiker der Pandemie möglicherweise zusätzlich zuschreiben könnten, ist ihre Wirkung als Beschleuniger. Es scheint so, als ob die immer weiter zunehmende Globalisierung ihren Scheitelpunkt erreicht hat. Was sich zuvor schon schleichend angekündigt hatte, mehr Nationalstaatlichkeit und weniger internationale Zusammenarbeit, hat durch die Pandemie mehr Dynamik entfaltet. Das ist in den politischen Entscheidungen in den USA zu sehen, viel deutlicher aber noch in China, das sich im Zug der Pandemiebekämpfung von der restlichen Welt förmlich abgeschottet hat und eine immer aggressivere nationalistische Politik verfolgt. Zudem hat der offene Wettkampf zwischen China und den USA um die Rolle als weltweit führende Supermacht eingesetzt.

    Das Irrationale hat als gesellschaftliche und politische Kraft einen weiteren Schub erhalten

    Auch wirtschaftlich könnte der Ausbruch der Pandemie den Höhepunkt der Globalisierung markieren. Viele Unternehmen denken gerade grundsätzlich über ihre Geschäftskonzepte nach – etwa weil die weltweiten Lieferketten ins Stocken geraten sind, aber auch, weil immer öfter staatliche Eingriffe wie Sanktionen, Zölle, Verbote den internationalen Geschäftsverkehr erschweren.

    Es könnte auch sein, dass man rückblickend auf die Pandemiezeit in den liberalen westlichen Demokratien noch etwas beobachten können wird: Dass das Irrationale als gesellschaftliche und politische Kraft einen weiteren Schub erhalten hat – mit dem Sturm auf das Kapitol vor einem Jahr als einem vorläufigen Höhepunkt.

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