Pistorius will Deutschland "kriegstüchtig" machen – was meint er damit?
Verteidigungsminister Boris Pistorius ist kaum zehn Monate im Amt und hat es schon zu einem der beliebtesten Politiker des Landes gebracht. Doch jetzt schwört der SPD-Mann die Deutschen auf gefährliche Zeiten ein. Im ZDF sagte er: "Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte." Das bedeute: "Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen." Gleichzeitig wies er Vorwürfe zurück, bei der Modernisierung der maroden deutschen Streitkräfte gehe es zu langsam voran. "Viel mehr Tempo geht gar nicht." Bereits zwei Drittel des 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögens seien verplant, Produktion und Lieferungen dauerten aber an.
Kann die Bundeswehr heute Deutschland verteidigen?
Direkt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte Alfons Mais, der Heeresinspekteur der Bundeswehr, die jahrelange Vernachlässigung der Bundeswehr massiv kritisiert. Die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank da", sagte er. Dass sich an dieser Einschätzung wenig geändert hat, zeigt allein die Forderung des Bundesverteidigungsministers, die Bundeswehr wieder "kriegstüchtig" zu machen. Denn Sinn und Zweck der Bundeswehr ist ja die Landes- und Bündnisverteidigung, die im Kriegsfall nötig wird.
Wie haben sich die geopolitischen Umstände verändert?
So viele Vorzeichen es für den Krieg in der Ukraine gab, die deutsche Politik traf er wie ein Schock. Seit dem Ende des Kalten Krieges war Russland vor allem als Partner gesehen worden, nicht als möglicher Feind. Nun zeigt sich Putins Bereitschaft, Grenzen mit Gewalt zu verändern, in ihrer ganzen Brutalität. Zudem mehren sich Zweifel am Bestand der amerikanischen Sicherheitsgarantien. Sollte der frühere Präsident Donald Trump erneut ins Weiße Haus einziehen, könnte die Nato wanken. Kürzlich kündigte der derzeit aussichtsreichste Bewerber der Republikaner unter dem Jubel seiner Anhänger an, dass er die Ukraine-Hilfen sofort aussetzen und den Europäern das Management des Konfliktes überantworten würde, sollte er 2024 gewählt werden.
Wie wurde das Sondervermögen verwendet?
In seiner "Zeitenwende"-Rede vor dem Bundestag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Ertüchtigung der Bundeswehr an. Das Geld soll zusätzlich zum regulären Verteidigungshaushalt von rund 50 Millionen Euro jährlich in den kommenden sieben Jahren ausgegeben werden. Seither wurden etwa F-35-Kampfjets und schwere Transporthubschrauber aus den USA bestellt.
Wie weit reichen die 100 Milliarden Euro?
Nicht annähernd weit genug, warnen Kritiker wie der Unions-Verteidigungsexperte Florian Hahn. Unserer Redaktion sagte der CSU-Politiker: "Trotz groß angekündigter Reformen sehen wir kaum Verbesserungen bei der Beschaffung. Eine einsatzbereite Bundeswehr benötigt nicht nur Ankündigungen. Sie braucht etwas anderes als ungedeckte Schecks, Symbolpolitik und Rechentricks." Bei der Bundeswehr dürfe es nur darum gehen: "Eine Armee, die Deutschland und Europa gegen äußere Feinde verteidigen kann. Mit diesem Haushalt sind wir weit davon entfernt und kommen nicht mal in die Nähe davon, das in absehbarer Zukunft zu erreichen."
Brauchen wir eine Ausnahme von der Schuldenbremse?
Mit dem Sondervermögen gibt es die faktisch bereits. Doch die Rufe nach weiteren Ausnahmen auch nach dem Auslaufen des Sondervermögens werden lauter. Zuletzt forderte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck mehr Geld für die Armee: "Wenn wir die Zeitenwende ernst nehmen, muss Deutschland für seine Sicherheit mehr tun." Darüber müsse rechtzeitig gesprochen werden.
Wie laufen die Reformen in der Bundeswehr?
Marode Kasernen, kaputtes Kriegsgerät und selbst fehlende warme Unterwäsche für den Winter belasten die rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten seit Langem. Als Pistorius übernahm, versprach er aufzuräumen. Doch es zeigt sich, dass das dauert. Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber nannte die Bundeswehr im Gespräch mit unserer Redaktion "bedingt abwehrbereit". Die Koalition wolle sie zum "Rückgrat der europäischen Verteidigung machen". Pistorius habe auf diesem Weg "vieles richtig gemacht". Er solle aber auch nicht vergessen, "dass die Unterstützung der Ukraine gerade die beste Investition in unsere Sicherheit ist". Faber sagte: "Wir haben Krieg in Europa".
Welche Herausforderungen gibt es?
Zuletzt musste Pistorius empfindliche Rückschläge hinnehmen, die meisten haben ihre Wurzeln aber vor seinem Amtsantritt. So hatte die Bundeswehr etwa für eine gute Milliarde Euro neue Funkgeräte gekauft, doch dann stellte sich heraus, dass die wegen ihrer Größe in manche Fahrzeuge gar nicht passen. Zur echten Bewährungsprobe wird dagegen sein Plan, eine ganze Bundeswehr-Brigade dauerhaft in Litauen zu stationieren, um die Nato-Ostflanke zu stärken. Doch es gibt Zweifel an der Machbarkeit. Die bis zu 4000 Soldaten sollen aus anderen Truppenverbänden "herausgeschwitzt" werden, heißt es in der Truppe.
Warum will kaum ein deutscher Soldat nach Litauen?
In Berichten heißt es, dass "nur" etwa jeder fünfte Soldat bereit sei, für längere Zeit im Baltikum zu dienen. Im Umfeld von Pistorius wird das allerdings angezweifelt. Und selbst wenn es so wäre, heißt es im Bendlerblock, dann stünden ja immerhin rund 12.000 Kräfte zur Verfügung, genug für drei Brigaden. Zudem arbeite man mit Hochdruck daran, Bedenken auszuräumen. Für eine bessere Vereinbarkeit von Dienst und Familie seien etwa deutsche Kindergärten und Schulen geplant. Gegen eine Versetzung ins Ausland haben Soldaten aber kaum eine Handhabe. Bereits im kommenden Jahr sollen Vorauskommandos in Litauen eintreffen, um die Brigade rasch aufzubauen. Pistorius hat sie als "das Leuchtturm-Projekt der Zeitenwende" bezeichnet – und sie damit auch zum Maßstab des eigenen Erfolges erklärt. Scheitert das Litauen-Projekt, ist auch er gescheitert.