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Foto: Boris Roessler, dpa
Foto: Boris Roessler, dpa

DGB-Chef Reiner Hoffmann mahnt mehr Solidarität in der Gesellschaft an. Die Aktionen von Impfgegnern und Querdenker – wie hier in Frankfurt – sieht er daher kritisch.

Interview
01.12.2021

DGB-Chef Hoffmann: Impfgegner stellen sich gegen das Gemeinwohl

Von Stefan Stahl

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann würde eine Impfpflicht unterstützen, wenn juristische Bedenken ausgeräumt sind. Was dem Gewerkschafter an der Ampel-Koalition missfällt.

Herr Hoffmann, Corona scheint uns fester im Griff zu haben denn je. Wird das ein trauriges Weihnachtsfest?

Reiner Hoffmann: Die Lage ist sehr angespannt. Die neue Virus-Variante Omikron könnte uns das Weihnachtsfest verhageln. Wir müssen jetzt alles daransetzen, die vierte Corona-Welle zu brechen. Nur so haben wir die Chance, einen erneuten Lockdown zu verhindern. Wenn sich ein bundesweiter Lockdown nicht verhindern lässt, sollten wir Schulen und Kitas so weit wie möglich offen halten. Eines hat Corona klar gezeigt: Homeschooling und Homeoffice vertragen sich nicht. Die Leidtragenden sind nämlich vor allem die Frauen. Auf alle Fälle brauchen wir jetzt ein politisch bundesweit einheitliches Vorgehen in der Corona-Politik.

Was kann jeder Einzelne tun, um die Welle zu brechen? Nur nach dem Staat zu rufen, ist ja immer einfach.

Hoffmann: Sich impfen zu lassen ist das Gebot der Stunde. Wer das immer noch nicht getan hat, sollte es bitte schleunigst nachholen. Wer sich impfen lassen kann und es dennoch nicht tut, stellt seine eigenen Interessen in den Vordergrund und schadet damit nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch sich selbst. Schließlich erkranken Ungeimpfte deutlich häufiger und schwerer an Corona als Geimpfte.

Impfen allein reicht aber leider nicht.

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Hoffmann: Weil die meisten Infektionen im privaten Umfeld entstehen, ist es ein Gebot der Solidarität, dass Menschen jetzt wieder Abstand halten. Wir sollten persönliche Begegnungen auf ein notwendiges Maß beschränken. Gewerkschaftliche Solidarität bedeutet auf Corona übertragen: Wir sollten besser wieder zu Hause bleiben, von Verwandtenbesuchen so weit wie möglich Abstand nehmen und keine Partys feiern.

Ist Solidarität der Schlüssel zur Überwindung der Krise?

Hoffmann: Solidarität ist für mich ein ganz wichtiger Wert in der Krise. Doch Solidarität wird in der Krise zwar häufig bekundet, aber zu wenig gelebt: Trotz aller Beteuerungen gibt es im Pflegebereich immer noch keine anständigen Löhne. Das Personal in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen geht auf dem Zahnfleisch. Zwar wurde die technische Einrichtung verbessert, aber es fehlt an Personal. Solidarität darf keine Worthülse sein. Das war in der Vergangenheit viel zu oft so. So hat Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn die Gewerkschaft Verdi bei dem Versuch nicht unterstützt, einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag im Pflegebereich einzuführen, was die Lage der Kräfte dort verbessert hätte. Am Ende haben sich hier auch die kirchlichen Einrichtungen verweigert.

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Doch die Lage in manchen Kliniken ist inzwischen grenzwertig.

Hoffmann: Das zeigt für mich ganz klar: Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Wir müssen die Gesundheitsberufe nicht nur wertschätzen, sondern auch besser bezahlen. Das Personal in Pflegeeinrichtungen und Kliniken muss ebenso angesehen sein wie Facharbeiterinnen und Facharbeiter, ja wie Ingenieurinnen und Ingenieure.

All das wirkt langfristig. Kurzfristig muss rasch gehandelt werden. Der künftige Kanzler Olaf Scholz holt sich nach italienischem Vorbild eine Art Impf-General. Fehlt es den Deutschen an Disziplin und den politisch Verantwortlichen an Konsequenz?

Hoffmann: Fest steht, dass sich die Verantwortlichen nicht ausreichend auf die Dritt-, also Booster-Impfungen, vorbereitet haben. Hier wurde allzu lax vorgegangen. Und dass sich der scheidende Gesundheitsminister im Wochentakt widersprochen hat, war auch nicht hilfreich.

Brauchen wir mehr Gemeinwohl-Disziplin und weniger Egoismus?

Hoffmann: Das Gemeinwohl zu stärken, ist wesentlich bei der Bekämpfung der Pandemie. Doch Impfgegner stellen sich gegen das Gemeinwohl. Wir müssen das Gemeinwohl wieder in den Vordergrund rücken und dabei noch deutlicher als in den vergangenen Wochen auftreten.

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Also müssen wir letztlich doch eine Impfpflicht für alle einführen.

Hoffmann: Diese Diskussion müssen wir in den kommenden Wochen sachlich und offensiv führen. Klar ist aber auch, eine Impfpflicht bringt keine schnellen Erfolge. Mit einer Impfpflicht könnten wir uns aber besser auf den nächsten Herbst vorbereiten.

Um so dank der Impfpflicht vielleicht die fünfte Welle zu verhindern.

Hoffmann: Das ist das Ziel. Das setzt aber voraus, dass auch jederzeit ausreichend Impfstoff vorhanden ist.

Sind Sie also für eine Impfpflicht?

Hoffmann: Natürlich müssen wir verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Impfpflicht ernst nehmen, aber am Ende dürfen wir das Individualinteresse nicht über das Gemeinwohlinteresse stellen. Wenn wir verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite sind und das Thema breit und offen diskutiert haben, stelle ich mich dem nicht entgegen. Ich weiß aber auch, dass das Thema „Impfpflicht“ bei den Gewerkschaftsmitgliedern intensiv und kontrovers diskutiert wird. Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Daran werden wir uns beteiligen. Meine persönliche Präferenz ist dabei sehr klar.

Kriegen wir das mit einer Impfpflicht hin? Der Chef des Energie-, Agrar- und Baustoffhändlers Baywa, Klaus Josef Lutz, sagt ja: „Ich habe den Eindruck, wir kriegen in Deutschland nichts mehr hin.“

Hoffmann: Diese Einstellung halte ich für zu fatalistisch. Man muss anerkennen, dass wir in Deutschland in der bisherigen Bekämpfung der Pandemie auch vieles richtig gemacht haben. Natürlich sind auch die Schwächen unseres Staates deutlich zutage getreten. Doch die Pandemie und Naturkatastrophen wie das Hochwasser sind ein Weckruf für Deutschland. Wir müssen jetzt die Zukunftsherausforderungen wie die Energiewende und die Digitalisierung beherzt anpacken.

Packt die Ampel-Koalition die Zukunftsthemen beherzt genug an?

Hoffmann: Die Ampel-Koalition hat richtige Themen adressiert. Das stimmt mich optimistisch. Der zentrale Satz des Koalitionsvertrages ist für mich, dass wir Herausforderungen wie die Bekämpfung des Klimawandels und die Digitalisierung nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gemeinsam erfolgreich gestalten können. Diese Herausforderungen sind so groß wie einst, als die Industrialisierung ihren Ausgang nahm.

Sind Sie ein Ampel-Fan? Für einen Gewerkschafter gibt es dank des tätigen Mitwirkens der FDP am Koalitionsvertrag doch einiges zu mäkeln.

Hoffmann: Natürlich gibt es auch klare Kritikpunkte. Der Vertrag hat Stärken und Schwächen. Doch auch die FDP hat eine gewisse Lernkurve durchlaufen. Ich hoffe, dass sie an einstige sozial-liberale Zeiten anknüpft. Was ich aber am Koalitionsvertrag klar vermisse: Mir fehlen die Preisschilder.

Welche Preisschilder?

Hoffmann: Ich meine damit, dass durch die ambitionierten Ziele der neuen Regierung wie etwa beim Klimaschutz der Investitionsbedarf enorm gestiegen ist. Doch im Koalitionsvertrag werden diese Ziele nur allgemein genannt, ohne dass der Weg dorthin und die Finanzierung konkret aufgezeigt werden. Diese finanzielle Sicherheit brauchen die Menschen aber, wenn sie sich zum Beispiel auf die Energiewende ein- und verlassen sollen.

Statt Preisschilder draufzukleben, will die neue Koalition die Schuldenbremse 2023 wieder scharf schalten.

Hoffmann: Da wir vor einem Jahrzehnt der Investitionen stehen, reicht es nicht, die Schuldenbremse nur bis 2023 auszusetzen. Wir brauchen eine grundlegende Reform der Schuldenregeln. Wir müssen uns auch in Deutschland genügend Spielraum für die dringend notwendigen Investitionen verschaffen. Das ist auch eine Lehre aus Corona. Und die gerade wegen der hohen Energiepreise auf 5,2 Prozent gestiegene Inflationsrate gebietet es, dass wir gerade Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen finanziell entlasten. Sie können den steigenden Energiepreisen nicht ausweichen, indem sie in moderne Niedrigenergie-Wohnungen ziehen, weil diese schlicht zu teuer für sie sind. Und sie können auch nicht ihren Benziner verschrotten und auf Elektroautos umsteigen, weil auch die zu teuer für sie sind. Diese Umbruchzeit birgt ein Risiko für unsere Demokratie.

Welches Risiko?

Hoffmann: In der zunehmend komplexen Welt ist die Gefahr groß, dass Menschen populistischen Parolen folgen. Gerade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen müssen merken, dass sie nicht allein die Zeche für den Strukturwandel weg von fossiler zu erneuerbarer Energie bezahlen. Die Menschen haben ein feines Gespür für soziale Gerechtigkeit. Ich halte es jedenfalls für einen Fehler, dass sich die Ampel-Koalition nicht auf ein gerechteres Steuerkonzept geeinigt hat, also etwa auf eine verfassungskonforme höhere Erbschaftsteuer für Menschen mit größerem Besitz. Erben ohne Leistung darf nicht belohnt werden.

Welche Fehler macht die Ampel noch?

Hoffmann: Es ist auch ein Fehler, dass die Ampel-Koalition keine Vermögenssteuer einführen will, obwohl das in einem am Gemeinwohl orientierten Staat geboten wäre. Solche Ungerechtigkeiten spüren die Leute. Wenn nichts dagegen passiert, ist das Risiko groß, dass sie Feinde der Demokratie wählen.

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