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Foto: Arne Dedert, dpa
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Die Wirtschaftsberichterstattung hat sich geändert. Euphorischen Börsen-Storys begegnen wir mit Skepsis, Börsenempfehlungen gibt es nicht mehr.

Berichterstattung
27.10.2020

Wie sich unser Bild der Wirtschaft gewandelt hat

Von Michael Kerler

Was bedeuten Vorstandsbeschlüsse für Beschäftigte? Für Verbraucher? Anfangs hat dies kaum einer gefragt. Doch heute gelten im Journalismus andere Maßstäbe.

Lange Zeit ging es in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne gediegen zu. In der Deutschen Bank traf der Besucher auf livrierte Diener mit Handschuhen, die Kaffee reichten. Die Vorstände strotzten vor Selbstbewusstsein. „Da kam es vor, dass ein Vorstand kritische Fragen eines Journalisten als unanständig empfand und einen anherrschte: ,Behalten Sie doch Ihr Niveau!‘“, erinnert sich zum Beispiel Georg Meck, 53, der seine Karriere bei der Augsburger Allgemeinen gestartet hatte und inzwischen als Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung arbeitet.

Heute trifft man an der Spitze der Deutschen Bank Christian Sewing, ein Manager, der am Wochenende mit Jugendfreunden in seinem Heimatverein Tennis spielt, wenn es die Zeit zulässt, der sich nahbar gibt und locker, der ironisch sein kann. Statt Kaffee gereicht zu bekommen, zapfen sich Vorstände ihr Wasser am Wasserspender selbst.

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Foto: Arne Dedert, dpa
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Gibt sich gerne nahbar und locker: Christian Sewing.

Die Wirtschaft hat sich geändert – und mit ihr das Selbstverständnis der Wirtschaftsjournalisten, hat der Autor mehrerer Bücher über deutsche Konzerne beobachtet. Professionell berichten, kritisch, unabhängig, das sind die Maßstäbe, die heute für uns als Wirtschaftsjournalisten gelten – und die Stück für Stück erarbeitet worden sind.

Früher war Wirtschaftsjournalismus eine "elitäre Angelegenheit"

Ein Blick zurück, 1945: Das Land will auf die Beine kommen. „Deutschland befand sich erst im Wiederaufbau und dann im sogenannten Wirtschaftswunder“, sagt der Würzburger Medienforscher Professor Lutz Frühbrodt. „Also schien es grundsätzlich erst mal äußerst positiv, wenn Unternehmen wuchsen und große Gewinne einstrichen – egal, wie sie Wachstum und Profite erzielten, ob durch hervorragende Geschäftsmodelle und eine hoch produktive Arbeiterschaft oder aber durch krumme Touren und Umweltsünden.“

Kritik sei damals im Journalismus noch nicht sehr verbreitet gewesen, auch nicht an Firmenlenkern. Die Unternehmensberichterstattung in deutschen Medien erscheint eher als „elitäre Angelegenheit“ für Manager, Großaktionäre und interessierte Laien.

In Deutschland bildete sich ein besonderes Wirtschaftssystem heraus, das später als Deutschland AG beschrieben wird. Die Unternehmen waren eng verwoben, Allianz und Deutsche Bank hielten große Industriebeteiligungen. Zusammenhalten war die Devise. Dieses Muster prägte lange das Selbstbewusstsein der Elite. „Manche Vorstände waren sakrosankt, Kritik hat nicht hineingepasst in ihr Weltbild“, sagt Georg Meck noch über seine Anfangszeit als Journalist. Doch Stück für Stück reißt das Netz auf.

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Foto: FAZ
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Georg Meck arbeitet als Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Wie wir heute auf die Wirtschaft blicken

Mitte der 80er Jahre zieht sich ein Reporter namens Günter Wallraff eine schwarze Perücke auf, mit einem dicken Schnauzbart heuert er als Gastarbeiter Ali in den Betrieben an, bei McDonald’s und dem Stahlkonzern Thyssen. Die Benachteiligungen, die er erlebt, fasst er in einem Buch zusammen, das zum Bestseller wird: „Ganz unten“.

Die Perspektive ausländischer Arbeiter ist damit in der Berichterstattung angekommen. Bereits zuvor hatte sich der Blick auf die Wirtschaft Schritt für Schritt zugunsten der Beschäftigten geöffnet: „Die weitverbreiteten Streiks in den frühen 1960er Jahren hatten schon gezeigt, dass die Arbeitnehmerseite stärker Berücksichtigung finden muss“, sagt Forscher Lutz Frühbrodt. Was bedeuten Unternehmensentscheidungen für die Arbeitnehmer? Diese Frage bestimmt bis heute den Blick auf die Wirtschaft in unserer Redaktion. Das gilt für den Aufstieg von Unternehmen – sei es bei Kuka in Augsburg oder Grob in Mindelheim –, noch mehr aber dann, wenn Einschnitte anstehen.

Es ist ein Freitag, der 10. Januar 2014, als Menschen mit versteinerten Gesichtern das große Bürogebäude an der Steinernen Furt in Augsburg verlassen. Der Buchhandelskonzern Weltbild hat Insolvenz angemeldete. In den folgenden Monaten berichtet unsere Redaktion intensiv darüber, wie die damals 2200 Beschäftigten in der Stadt um ihre Arbeitsplätze bangen, wie sich der Insolvenzverwalter auf die Suche nach einem Investor macht und der Betriebsrat an die Verantwortung des langjährigen Eigentümers – der Kirche – appelliert. Weltbild hat am Ende überlebt, 350 Beschäftigte arbeiten heute in Augsburg für den Verlag, der wieder wächst.

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Diese Traditions-Firmen in der Region gerieten in Schwierigkeiten
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Die Kammgarnspinnerei (AKS) in Augsburg konnte mit der Konkurrenz aus Billiglohnländern nicht mehr mithalten. 2002 meldete das Unternehmen Insolvenz an. 2004 musste es schließen.

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2002 ging die 275-jährige Geschichte der Traditionsfirma Kerzen-Miller zu Ende. Die Kerzenfabrik musste Insolvenz anmelden. Das Unternehmen zählte zu den ältesten in Augsburg.

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Das Aus der Walter Bau AG im Jahr 2005 ist der bisher größte Augsburger Insolvenzfall. Walter Bau gehörte einst mit 50.000 Mitarbeitern zu den größten Bauunternehmen Europas.

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Die Neusässer Großdruckerei Kieser geriet 2005 in finanzielle Schieflage. 130 Mitarbeiter waren betroffen. Ein österreichisches Unternehmen übernahm einen Teil der Firma.

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Bei der Ibex Systems AG in Mühlhausen war 2005 Schluss, weil die Computerfirma die Stromrechnung nicht mehr bezahlen konnte. Sie war nach der zweiten Pleite nicht mehr zu retten.

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2010 geriet der Augsburger Maschinen-Hersteller Böwe Systec in zwei Insolvenzen. Die Possehl-Gruppe sprang ein. Trotzdem verlor die Hälfte der einst 800 Mitarbeiter ihren Job.

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2011 wurde der Augsburger Druckmaschinen-Hersteller Manroland zahlungsunfähig. Standorte mussten schließen - in Augsburg selbst stieg aber die Lübecker Possehl-Gruppe ein.

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Die Schuhhandelskette Leiser musste 2012 Insolvenz anmelden. Hunderte Menschen verloren ihre Jobs. Im August 2017 schloss die letzte Filiale in der Augsburger Annastraße.

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2300 Weltbild-Mitarbeiter waren in Augsburg beschäftigt. Jetzt sind es nur noch wenige hundert. Nach der Insolvenz im Januar 2014 übernahm die Düsseldorfer Droege Gruppe den Verlag.

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Wafa gab Ende 2015 bekannt, dass knapp die Hälfte der rund 330 Mitarbeiter das Unternehmen verlassen müssen. Als Käufer der Wafa wurde unter anderem die Demmel Gruppe präsentiert.

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2017 wurde beim Papierhersteller UPM eine komplette Papiermaschine geschlossen. 150 Mitarbeiter waren von den Stellenkürzungen betroffen.

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Im Anlagenbau bei Kuka lief es nicht rund. Das gab der Roboter- und Anlagenhersteller im November 2017 bekannt. 250 Stellen wurden gekürzt.

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Die aktuellste Schließung trifft Ledvance - am 12. Oktober 2018 wurde die Produktion endgültig eingestellt. Zu Spitzenzeiten hatte der Lampenhersteller 2000 Beschäftigte, ...

Foto: Fred Schöllhorn (Archiv)

... damals noch unter dem Namen Osram. Die Schließung des 100 Jahre alten Unternehmens bedeutet auch einen Einschnitt in die Historie der Stadt.

Foto: Silvio Wyszengrad

Das Fujitsu-Werk in Augsburg schließt. Das wurde im Oktober 2018 bekannt. Betroffen sind rund 1800 Menschen.

Foto: Silvio Wyszengrad

Kurz vor Weihnachten 2018 kam die schlechte Nachricht für die 400 Mitarbeiter: Die Gersthofer Backbetriebe mussten Insolvenz anmelden.

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Im Januar 2019 dann erneut schlechte Nachrichten von Kuka: Der Roboterhersteller senkte seine Prognosen, auch Stellenabbau ist wahrscheinlich.

Foto: Szilvia Izsó

Strenesse steckte schon länger in Schwierigkeiten, die Corona-Krise bedeutete das endgültige Aus: Im Juli 2020 kündigte das Modeunternehmen aus Nördlingen an, bis zum Jahresende den Betrieb einzustellen.

Auch die Perspektive des Verbrauchers kommt hinzu

Andere Geschichten kennen kein Happy End: Sei es die spektakuläre Insolvenz der Walter Bau AG, Verkauf und Schließung der Osram/Ledvance-Standorte oder das Aus für das Fujitsu-Computer-Werk. Erfolgsgeschichten mit Distanz begleiten, die Entscheidungsprozesse im Räderwerk der heutigen Deutschland AG verfolgen, da sein, wenn es kritisch wird, das sind die Maßstäbe unserer Firmenberichterstattung. Ein Beispiel: der Diesel-Skandal.

Im Mai 2018 trifft unsere Redaktion in Ingolstadt den damaligen Audi-Chef Rupert Stadler zum Interview. „Wann können Sie wieder ruhig schlafen?“, fragt unsere Redaktion. „Haben Sie am Anfang der Affäre nicht entschieden genug aufgeklärt?“ Stadler gibt sich selbstsicher: „Wir haben uns vom ersten Tag an entschlossen an die Arbeit gemacht“, sagt er. Kurz danach, im Juni, wird er in U-Haft genommen, derzeit läuft ein Prozess gegen ihn. Auch wenn es keine Vorverurteilungen gibt: Manager mit unangenehmen Dingen zu konfrontieren, dieser Mut muss sein.

Noch eine Perspektive kommt hinzu: die des Verbrauchers.  Zu Beginn der 1960er Jahre fasste der Keynesianismus Fuß an deutschen Hochschulen, sagt Frühbrodt – mit der Folge, dass künftige Wirtschaftsredakteure stärker auf die Nachfrage schauten. „Dadurch kamen die Verbraucher als feste Größe ins Spiel“, erklärt er. Wie gesund sind unsere Lebensmittel wirklich? Wie kann es sein, dass Lufthansa-Kunden noch immer nicht ihr Geld für stornierte Tickets zurückbekommen haben? Verbraucherthemen sind heute ein fester Pfeiler der Berichterstattung.

Euphorischen Börsen-Storys begegnen wir mit Skepsis, Börsenempfehlungen gibt es nicht mehr

Gute Wirtschaftsjournalisten sind heute Agenten des Lesers, nicht der Firmen, sagt auch Wirtschaftsjournalist Meck. Klare Sprache, Sachkenntnis, Klischeefreiheit und ein eigenes Urteil zeichnen sie aus. „Auf gut Schwäbisch: Nix glauben, selber denken“, sagt er. Was dabei hilft: Neue Akteure bereichern im Laufe der Zeit den Wirtschaftsjournalismus – die Financial Times, die im Jahr 2000 zeitweise nach Deutschland kommt, auf regionaler Ebene beleben Radiosender den Wettbewerb. Geschärft haben den Blick auf die deutsche Wirtschaft aber vor allem ihre Skandale.

In den 90er Jahren wirbt Schauspieler Manfred Krug für die „T-Aktie“, die Telekom geht an die Börse. Es ist die Zeit der New Economy, zehntausende Sparer kaufen die Papiere. Doch der Börsenboom ist auf Sand gebaut, vielen gehypten Firmen wie EM.TV fehlt es an Substanz. Die Blase platzt. „Ende der Neunzigerjahre wurde in Deutschland ein Börsenfanatismus entfacht, dem sich selbst die meisten seriösen Medien nicht entziehen konnten“, sagt Frühbrodt.

„Im Nachhinein scheint es mir, als seien viele Wirtschaftsjournalisten auf eine gigantische PR-Maschinerie hereingefallen, denn etwas wirklich Sinnvolles und zumal Fassbares haben nur wenige Unternehmen des Neuen Marktes produziert.“ Die Redaktionen haben gelernt: Euphorischen Börsen-Storys begegnen wir mit Skepsis, Börsenempfehlungen gibt es nicht mehr. Dass Vorsicht nach wie vor angebracht ist, das zeigt der aktuelle Wirecard-Skandal. Der Zahlungsdienstleister hat seine Bilanzen offenbar massiv geschönt.

Wirtschaftsberichterstattung ist heute mehr als das Gespräch mit Vorständen

Noch ein Ereignis wirbelt Wirtschaft und Berichterstatter auf: Im Jahr 2006 kommt auf, dass Siemens jahrelang Schmiergeldzahlungen betrieben hat. Die Wirtschaft zieht rigorose Lehren: Regeltreue – Englisch Compliance – beherrscht heute die Abläufe. Große Geschenke sind tabu. Das färbt auf das Selbstverständnis der Wirtschaftsjournalisten ab. Große und teure Pressereisen, deren Sinn keiner versteht und die im Verdacht stehen, dass mit ihnen eine „günstige“ Berichterstattung erkauft werden soll, gibt es nicht mehr oder sie werden längst als anstößig empfunden.

Wirtschaftsberichterstattung ist heute mehr als das Gespräch mit Vorständen. Ganz zentral ist für uns der Austausch mit normalen Arbeitnehmern, mit Kunden, Kleinaktionären und unseren Lesern geworden. Woher sollte die Redaktion sonst wissen, wo etwas im Argen liegt? Oder wo spannende Entwicklungen stattfinden? Diesen Dialog zu pflegen, wird in Zeiten der Corona-Epidemie eine neue, zentrale Herausforderung.

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