Ihre fünfjährige Tochter soll unbedingt geimpft sein, bevor sie Covid-19 bekommt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich infiziert, steige aktuell ja massiv, erzählt eine 40-jährige Mutter, die daher seit Längerem versucht, einen Impftermin für ihr Kind zu ergattern – bisher vergeblich. Ihr Mann und sie sind dreimal geimpft, denn sie nehmen Corona sehr ernst. Auch wenn das Risiko, dass ihre Tochter schwer erkrankt, gering sei, „immer wieder hört man von Fällen, in denen auch Kinder auf die Intensivstation müssen und das will ich auf jeden Fall verhindern“. Aber es gibt noch einen zweiten wichtigen Grund für die Mutter: Sie hat gemerkt, dass ihre Tochter psychisch unter all den Einschränkungen sehr leidet.
Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA hat den Impfstoff von Biontech/Pfizer auch für Fünf- bis Elfjährige zugelassen. Eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) gibt es aber noch nicht. Sie wird in den nächsten Tagen erwartet. Professor Michael Frühwald, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Augsburg, erwartet keine allgemeine Empfehlung. Der erfahrene Mediziner geht davon aus, dass die Stiko zunächst nur für vorerkrankte Kinder eine Empfehlung ausspricht, wie das bei Kindern ab zwölf der Fall war.
Omikron kann zu schwereren Verläufen bei Kleinkindern führen
Damit müssen nun Eltern entscheiden, ob sie ihr Kind impfen lassen. Würde also Frühwald sein fünfjähriges Kind impfen lassen? „Ja, das würde ich, weil ich in letzter Zeit sehe, dass sich die Schäden bei den Kindern häufen. Und weil ich heute erfahren habe, dass gerade die neue Coronavirus-Variante Omikron zu schwereren akuten Verläufen bei Kleinkindern führen kann.“ Er sagt aber gleich dazu, dass er gehofft habe, dass wir die Kinder von einer flächendeckenden Impfung verschonen können. „Doch dafür hätten sich alle Erwachsenen impfen lassen müssen, und das ist leider nicht geschehen. Der Solidaritätsgedanke ist in unserer Gesellschaft erschreckend gering.“
Doch viele Eltern sind verunsichert. Macht es für viele doch einen Unterschied, ob ein Erwachsener einen relativ neuen Impfstoff erhält oder ein sich in der Entwicklung befindliches Kind. Wie sicher ist also der Impfstoff für Kinder, gibt es überhaupt genügend Daten dazu? „Es gibt eine sehr gute Zulassungsstudie von Pfizer, die knapp 2500 Patienten zählte und die gezeigt hat, dass die Nebenwirkungsrate bei den Fünf- bis Zwölfjährigen nicht höher war als bei den Zwölf- bis 16-Jährigen“, erklärt Frühwald. Auch seien bei den Kleinen noch wesentlich seltener Herzmuskelentzündungen als Nebenwirkung beobachtet worden als bei den über Zwölfjährigen.
Und wie schätzt der Arzt die Sorge um Spätfolgen ein? Diese Angst rührt seines Erachtens daher, dass viele immer noch nicht die Wirkungsweise des mRNA-Impfstoffs verstanden haben: „Leider glauben noch immer viele Menschen, dass wir den Bauplan des Körpers durch die mRNA verändern, aber das ist überhaupt nicht der Fall.“ Gespritzt werde eine mRNA, die lediglich eine wichtige Information, nämlich den Bauplan des für das Coronavirus speziellen Spikeproteins an die Zellen weitergibt und danach sofort wieder abgebaut wird. Der Körper kann dann mit der Entwicklung von Antikörpern beginnen. Ein Prozess, der ständig im Körper stattfinde. „Daher habe ich überhaupt gar keine Angst, dass Langzeitschäden entstehen.“ Was die Impfung akut auslösen kann, sind übliche Impfreaktionen wie Schüttelfrost, Fieber, Kopfschmerzen. „Kinder können nach der Impfung zwei, drei Tage im Bett liegen müssen, das vergeht in aller Regel aber wieder.“
Auch Kinder und Jugendliche können an Long Covid erkranken
Viel mehr Sorgen macht sich Frühwald, dass immer mehr junge schwer kranke Patienten jetzt in der vierten Welle ins Klinikum kommen: Momentan liege zum Beispiel eine 17-Jährige auf der Krankenstation, die bei einer akuten Covid-Infektion eine schwere Lungenentzündung hat. Gut, sie sei etwas übergewichtig, aber das sind viele in der Pubertät. Im Zimmer neben ihr liege eine 14-Jährige, die vor drei Wochen an Covid erkrankt war und nun Herzrhythmusstörungen und eine schwere Herzmuskelentzündung hat. Und zwei Zimmer weiter liege ein 13-Jähriger: Ein sportlicher Junge, der sich vor zwei Monaten infizierte und seitdem Schmerzen in der Brust hat, Gedächtnisstörungen und andere typische Long-Covid-Symptome. „Der Junge kann sich in der Schule nicht mehr das merken, was er vor Kurzem gehört hat. Er sagt von sich selbst: Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich kenne mich nicht mehr.“ Und gerade vor dem Hintergrund, dass Kinder eben auch an Long-Covid oder an dem Autoimmunsyndrom PIMS erkranken können, spricht sich Frühwald für eine Impfung aus.
Nicht zu unterschätzen sind für ihn vor allem auch die unwägbaren und massiven psychischen Schäden. Sie sind seiner Einschätzung nach nicht nur durch den Lockdown bedingt. „Kinder leiden ganz massiv an der Perspektivlosigkeit, an der Spaltung und den Streitereien in den Familien.“ Nicht selten sind sich beispielsweise Eltern nicht einig, der eine ist für eine Impfung, der andere dagegen. „Das alles macht die Kinder mürbe und krank.“ Für Frühwald steht fest: „Da wir es jetzt zulassen, dass die Kinder alle erkranken – die Inzidenz bei Kindern ist ja zum Teil bei 2000, das ist ja eine Katastrophe –, weil wir es einfach laufen lassen, müssen wir die Kinder auch impfen.“ Wütend macht ihn in diesem Zusammenhang die nun angekündigte Impfpflicht nur für Pflegekräfte, aber beispielsweise nicht für Lehrer oder Erzieher. Aus seiner Sicht kann eine Impfpflicht nur für alle gelten.
Und würde Frühwald eine generelle Empfehlung der Stiko für Kinder von fünf bis zwölf Jahren abwarten? „Nein, das würde ich nicht.“
Augsburger Kinderarzt warnt vor psychosozialen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche
Das machen auch viele Eltern nicht. Dr. Christian Voigt, der Sprecher der Kinderärztinnen und Kinderärzte für Augsburg und Nordschwaben, impft bereits Kinder ab fünf Jahre. Er bietet sogenannte „Off-Label“-Kinderimpfungen an, das heißt die jungen Patienten erhalten nur ein Drittel der Dosis des Biontech-Impfstoffs für Erwachsene. „Es ist eine hohe Nachfrage da“, sagte er. Voigt sieht überhaupt keine Probleme mit dem Impfstoff, bedauert es aber wie Frühwald sehr, dass sich nicht mehr Erwachsene impfen lassen. „Ich bin immer wieder entsetzt, wie wenig Vertrauen in die Wissenschaft, wie wenig Vertrauen in die Ärzte herrscht.“
Doch es gibt natürlich auch die anderen, die Eltern, die selbst geimpft sind und so früh wie möglich auch ihren Nachwuchs schützen wollen. Zwei Gründe seien es immer wieder, warum Eltern ihre Kinder impfen lassen: Vor allem wollen sie die sozialen Folgen dieser Pandemie abmildern. Sprich, ihr Kind soll weiter in den Kindergarten, in den Sportverein gehen und sich mit Freunden treffen können. Als zweiter Grund tauche immer wieder auf, dass kranke oder geschwächte Personen im Familienhaushalt leben.
Gerade die Angst vor den sozialen Folgen kann Voigt sehr gut nachvollziehen: „Denn es ist für uns Kinder- und Jugendärzte eine Katastrophe mitansehen zu müssen, welch gravierende psychosoziale Folgen diese Pandemie für Kinder und Jugendliche hat.“ Vor allem um Kinder, die in prekären Familienverhältnissen aufwachsen, macht sich Voigt große Sorgen. Denn was er und seine Kollegen und Kolleginnen schon seit Sommer registrieren: „Die einen Kinder nehmen massiv zu, die anderen magern weiter ab. Es ist teilweise gruselig mitanzusehen, wie sich Kinder binnen eines halben Jahres verändern.“ Die Pandemie führe aber nicht nur zu Essstörungen, sondern auch zu einem ungesunden Abgleiten in Medienwelten. „Da sind langfristige Schäden programmiert, mit denen werden wir noch viele Jahre zu tun haben“, warnt Voigt.