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Foto: Lothar Parschauer (Archivbild)
Foto: Lothar Parschauer (Archivbild)

Auch in der Landeshauptstadt München gingen die Menschen auf die Straße, um gegen die Gebietsreform zu protestieren.

Gebietsreform
01.07.2022

Galgen, Gedicht, Lederhose: So protestierte die Region gegen die Gebietsreform

Von Ronald Hinzpeter, Til Hofmann, Harald Jung, Matthias Kleber, Matthias Schalla, Hermann Schiller, Berthold Veh, Thomas Wunder

Plus Vor 50 Jahren veränderte die Gebietsreform die Struktur des Freistaates grundlegend. Vielerorts sorgte das für Enttäuschung und Zorn, wie einige Anekdoten aus unserer Region beweisen.

Moderner sollte er werden, der Freistaat, sich effizienter verwalten lassen. In den 1970er Jahren setzte die Staatsregierung unter Federführung von Innenminister Bruno Merk (CSU) eine Gebietsreform um, die das Gesicht Bayerns veränderte: Zum 1. Juli 1972 wurden aus 143 Landkreisen gerade einmal 71. Später wurden noch Gemeinden zusammengelegt: Statt mehr als 7000 Kommunen gab es fortan noch etwa 2000.

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Vielerorts hat das Unverständnis, Enttäuschung, ja sogar Zorn ausgelöst. Auch 50 Jahre später sind längst nicht alle Wunden verheilt: Bei Schwaben, die lieber Oberbayern wären. Bei Städtern, die zu Stadtteilbewohnern degradiert wurden. Oder bei Wasserratten, denen ein Freibad versprochen wurde, auf das sie heute noch warten. Ein paar Anekdoten zu einer Verwaltungsreform, die viele Menschen bewegt hat.

Jettingen und Scheppach waren die "Versuchskaninchen" von Innenminister Merk

Auf Gemeindeebene hat der damalige CSU-Innenminister Merk bereits zu Jahresbeginn 1970 das ausprobiert, was später auf ganz Bayern ausgedehnt worden ist. „Versuchskaninchen“ waren die zwei bis dahin selbstständigen Gemeinden Jettingen und Scheppach in Merks Heimatlandkreis Günzburg, die sich zusammenschlossen. Die Sache ging innerhalb eines halben Jahres über die Bühne. Merks Trumpf waren parteipolitische und teils auch private Freundschaften mit den Bürgermeistern beider Orte und viel freistaatliches Geld für die Kommunen im Fall einer „Gemeindehochzeit“. (ioa)

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Foto: Bernhard Weizenegger (Archivbild)
Foto: Bernhard Weizenegger (Archivbild)

Das Gesicht der Gebietsreform: der damalige Innenminister und 2013 gestorbene Bruno Merk.

In Göggingen wehten schwarze Fahnen

Eine Woche lang feierten die Bürgerinnen und Bürger in Göggingen im Jahr 1969 die Erhebung zur Stadt. Drei Jahre später kam die große Ernüchterung: Der große Bruder Augsburg schluckte im Zuge der Gebietsreform den erstmals im Jahr 969 erwähnten Ort und die Trauer war groß. Schwarze Fahnen wehten an den Fenstern des Rathauses. Vor knapp 20 Jahren hatte der Soldaten- und Veteranenverein der zum Stadtteil degradierten Kommune eine Idee, die wie Balsam für die geschundene Seele der einst so stolzen Städter war: Die ehemalige Fahne der einstigen Stadt wurde neu aufgelegt und im ehemaligen Rathaus verkauft. Eine lange Menschenschlange bildete sich schon lange vor der Öffnung des kleinen Verkaufsbüros. Zahlreiche Kleingärtner und Hausbesitzer hissten daraufhin stolz das rot-grün geteilte Banner mit den acht blanken Schwertern und dem Quaderturm.

Allgäuer Verhandlungen auf der Berghütte

Mit Fahnen auf halbmast wurde vor dem Landratsamt in Füssen vor 50 Jahren die Trauer darüber bekundet, dass der Landkreis Füssen Teil des neuen Landkreises Ostallgäu und Marktoberdorf Sitz des Landratsamtes wurde. Doch wurde die historische Stadt später entschädigt, als es um den Zuschnitt der Kommunen ging: Seinerzeit wollten nämlich weder Hopfen am See noch Weißensee zur Stadt Füssen – die Gemeinderäte der beiden selbstständigen Orte planten vielmehr eine Verwaltungsgemeinschaft. Doch sie hatten nicht mit CSU-Stadtrat Alfred Köpf gerechnet. Der verbrachte zwei Tage mit Bayerns Innenminister Bruno Merk auf einer Berghütte. Danach stand fest: „Das Mittelzentrum Füssen muss durch Hopfen und Weißensee gestärkt werden“, erinnert sich Köpf und schmunzelt. Er ist heute Füssener Ehrenbürger.

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In Aichach wehrte sich ein Unbekannter mit einem Schmähgedicht

Für viele Menschen in und um Aichach war es ein tiefer Einschnitt, dass sie von stolzen Oberbayern zu „Beute-Schwaben“ wurden. Viele hatten deshalb monatelang Trauerflor am Auto. Stammtischbrüder fuhren in den letzten Stunden vor dem 1. Juli mit einem Pferdegespann durch die nächtliche Stadt und tranken ein letztes Fassl Bier auf Oberbayern. Ein Unbekannter nagelte in dieser Nacht eine zerschlissene Lederhose an die Pforte des alten Landratsamtes. Daran ein Zettel mit einem Schmähgedicht, das sinngemäß so endete: Er könne den Regierenden nur seine alte Hose zum Abschlecken zur Verfügung stellen, denn sein Hinterteil selbst sei ihm dafür zu schade.

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Foto: Bernd Thissen, dpa (Symbolbild)
Foto: Bernd Thissen, dpa (Symbolbild)

Leck mich an der Lederhose: In Aichach fiel der Protest poetisch derb aus.

Zeit der Versprechungen: Ein Freibad für Geltendorf?

Vielerorts war die Zeit der Gebietsreform auch eine Zeit der Versprechungen. „Auch ich kann mich erinnern, als der damalige Landrat Bernhard Müller-Hahl den Geltendorfern ein Freibad im südlichen Teil von Geltendorf versprach“, erinnert sich Peter Bergmoser, SPD-Kommunalpolitiker und späterer Geltendorfer Bürgermeister – die Gemeinde wechselte von Fürstenfeldbruck nach Landsberg. Nur leider wurde nichts daraus. „Das war die erste Enttäuschung bei den Jugendlichen, denn jeder hatte sich gefreut, nicht mehr mit dem Fahrrad nach Greifenberg oder Kaufering fahren zu müssen“, sagt Bergmoser.

Wertingen und Meitingen – Wammerl und Filet

Bei der Gebietsreform ging es offenbar ein wenig zu wie beim Essen einer Schlachtplatte – zumindest, wenn man den Worten des Wertinger Hobbyhistorikers Alfred Sigg Glauben schenkt. Der erinnert gerne an den damaligen Dillinger Landrat Martin Schweiger. Dieser soll die Tatsache, dass Wertingen dem Landkreis Dillingen und Meitingen dem Landkreis Augsburg zugeschlagen wurde, wie folgt kommentiert haben: „Augsburg hat das Filetstück bekommen, wir das Wammerl.“ Zum Hintergrund: Landrat Schweiger war gelernter Metzgermeister.

Lindenberger Plan geht schief

Bei der Eingliederung des heutigen Ortsteils Lindenberg in die Gemeinde Buchloe verlief nicht alles exakt nach Plan. Am Tag vor der „Eheschließung“ der beiden Ortschaften beschloss der damalige Lindenberger Gemeinderat, der Kirche St. Georg und Wendelin 20.000 Mark und 18 Ster Holz zu stiften. „Wahrscheinlich, um sie nicht in die neue Ehe einbringen zu müssen“, mutmaßte damals der Lindenberger Hubert Hengge in einem Leserbrief an unsere Redaktion. Geholfen hat die „Geheimoperation“ allerdings nichts. Das Vorhaben sprach sich herum und schlussendlich musste Lindenberg das Geld der Rechtsnachfolgerin – also der Gemeinde Buchloe – zurückerstatten.

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Foto: Sabrina Schatz (Repro)
Foto: Sabrina Schatz (Repro)

Eine Seite der Illertisser Zeitung mit dem Bild einer Demo samt Galgen auf dem Illertisser Marktplatz.

Protest mit Galgen in Illertissen

Weiß der Geier, was die in München geritten hat – so ließe sich freundlich interpretieren, was 1971 bei einer Anti-Reform-Demo in Illertissen zu sehen war: Ein „künstlerisch missratener“ Geier, wie die Illertisser Zeitung anmerkte, hockte auf einem großen Galgen. Dort sollten „Verfassungsbrecher“ hängen. Seinen Frust über den Verlust der Eigenständigkeit artikulierte jahrelang ein bekannter Illertisser bei Ämterbesuchen in Neu-Ulm so: „Grüß Gott, ich komme aus den besetzten Gebieten.“

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