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Foto: Helmut Fohringer, APA/dpa
Foto: Helmut Fohringer, APA/dpa

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz gibt grünes Licht für die Öffnung des Handels.

Grenzkontrollen
16.02.2021

Die Corona-Strategie von Österreichs Kanzler Kurz lautet: "Schau’n wir mal"

Von Werner Reisinger

Österreichs Regierung hofft, mit den gelockerten Maßnahmen bis Ostern durchzukommen. Doch das Zögern rund um die Mutationsfälle in Tirol könnte sich rächen.

Es gleicht einem Glücksspiel, was sich seit ein paar Tagen an der Grenze zwischen Bayern und Tirol abspielt. Beispiel Kiefersfelden/Kufstein. Wer gilt als „systemrelevanter Pendler“, wer nicht? Bei so manchem Tiroler stößt das strenge Grenzregime der deutschen Nachbarn auf Unverständnis, ja Ärger.

Wer zum Arbeiten nach Bayern will, muss erst einmal aus Tirol hinaus, und dafür ist seit vergangenem Freitag per Regierungsverordnung ein negativer Corona-Test notwendig, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Kontrolliert wird das auf Kufsteiner Seite von Polizei und Bundesheer. Ein paar Meter weiter wird es für die Pendler erst richtig interessant, denn die deutschen Beamten verlangen nicht nur einen negativen Test und eine digitale Einreiseanmeldung, sondern auch einen Dienstausweis oder Arbeitsvertrag.

Seit Dienstag durchgelassen werden – als kurzfristig eingeführte Ausnahme – nicht nur Gesundheitspersonal und Transportdienstleister, sondern auch Erzieherinnen, Altenpfleger oder Bedienstete aus den Bereichen Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Bei allen anderen, die sich erhoffen, in das Schema zu passen, gilt: Versuch und Irrtum. Zahlreiche Tiroler versuchten es schon – nicht wenige mussten wieder umkehren.

Der Zorn in Wien auf Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist groß

Lange Schlangen aber, und das überrascht zumindest auf österreichischer Seite die Beamten, gibt es in Kufstein bislang keine. Wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder eine abschreckende Wirkung beabsichtigt hatte, so dürfte diese eingetreten sein. Die Mehrheit der Tiroler Pendler bleibt wohl vorsorglich gleich zu Hause.

Die unfreiwillig erworbene freie Zeit zum Skifahren zu nutzen wird in Tirol aber immer schwieriger. Einzelne Lifte wie die Seilbahnen in Sölden oder auf der Steinplatte nahe der deutschen Grenze haben ihren Betrieb inzwischen eingestellt, beklagt am Dienstag die Tiroler Wirtschaftskammer – „nur 33 Gäste am Tag“ habe ein Liftbetreiber gehabt. Nicht für die Seilbahnen selbst, wohl aber für die Pisten müssen Skifahrer seit Montag einen negativen Corona-Test vorweisen. Das sei „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen“ gebracht habe, lassen die Tiroler wissen; hinzu sei noch das Ende der Ferien in Österreich gekommen.

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In Wien sorgt der neue Grenzstreit mit Bayern für heftige politische Verstimmung. Am Sonntag wurde Ralf Beste, der deutsche Botschafter in Österreich, ins Außenamt zitiert. In „guter Atmosphäre“, wie man in der Hauptstadt betont, habe man Beste darauf hingewiesen, was man von den Maßnahmen an der Grenze halte. Einen „Tabubruch“ auf europäischer Ebene stelle das Verhalten Deutschlands dar, wettern Zeitungen, die der Kanzlerpartei ÖVP nahestehen. „Letztklassig“ sei es, wie sich Markus Söder Tirol gegenüber verhalte, ließ dessen ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter ausrichten.

Wieder also hängt der Haussegen zwischen Tirol und Bayern gewaltig schief. Und das ist nur eine der Sorgen, die die Regierungsspitze um Sebastian Kurz derzeit hat.

Experten befürchten wieder schärfere Corona-Maßnahmen in Österreich

Zehn Tage nach den ersten Lockerungen seit Weihnachten gilt in Österreich mehr denn je das bundesweit bekannte Prinzip „Schau’n wir mal“. Auch wenn praktisch alle Experten erwarten, dass es nur wenige Wochen dauern wird, bis steigende Corona-Zahlen erneut scharfe Maßnahmen notwendig machen werden, versucht man, sich irgendwie durchzuwurschteln, von Tag zu Tag und von Woche zu Woche.

Das Ziel: es irgendwie bis Ostern zu schaffen, Geschäfte und Schulen offen zu halten. Für die Gastronomie und Hotellerie wird es frühestens dann, „rund um Ostern“, wie Kanzler Kurz am Montag verkündete, Lockerungen geben. Die Regierung stellt für die Touristiker nun noch mehr Geld zur Verfügung (1,8 Millionen statt bisher 800.000 Euro Fixkosten-Beihilferahmen und maximal zehn Millionen statt bisher drei Millionen als Ersatz für Umsatzausfälle) und spricht von einer „EU-Vorreiterrolle“ des ÖVP-Finanzministers und Kurz-Intimus Gernot Blümel.

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Foto: Georg Hochmuth, APA/dpa
Foto: Georg Hochmuth, APA/dpa

Mächtig sauer auf Bayern: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Wie ein harter Lockdown sah der Alltag bis zum 8. Februar ohnehin nicht aus. Die abendlichen Ausgangsbeschränkungen waren kaum zu merken, auf den Straßen Wiens herrschte auch vor den Lockerungen geschäftiges Treiben. Seit den Öffnungen zieht es die Menschen in die Geschäfte oder – endlich mal wieder – zum Friseur. Weil für Letzteren ein negativer Test vorzuweisen ist, gab es vergangene Woche an den Teststraßen, etwa vor dem Schloss Schönbrunn, großen Andrang. In den vergangenen Tagen wurde bundesweit die Rekordzahl von rund 1,5 Millionen Antigen-Schnelltests absolviert, und nach wie vor scheinen die Infektionszahlen zu stagnieren.

Den Virologen machen vor allem die Mutationen Sorgen

Doch die Ruhe ist trügerisch, glaubt der Virologe Norbert Nowotny, Professor an der Wiener Vetmeduni: „Acht Tage, das ist noch viel zu kurz, um einen Anstieg der Zahlen zu sehen.“ Nowotny erwartet eine Zunahme des Infektionsgeschehens Ende der laufenden, spätestens Anfang der kommenden Woche. „Dann wird es interessant zu sehen, in welcher Dynamik die Zahlen wieder ansteigen.“

Große Sorgen macht dem Virologen vor allem die britische Variante B.1.1.7, die sich im bevölkerungsreichen Osten Österreichs immer stärker durchsetzt und sich auch langsam im Westen auszubreiten beginnt. Bei der noch gefährlicheren südafrikanischen Virusmutation, deren gehäuftes Auftreten in Tirol der Grund für die strengen bayerischen Grenzkontrollen ist, habe man die Chance verpasst, „sofort, effizient und vor allem lokal“ zu handeln. Mit den Verkehrsbestimmungen aus Tirol und den zwingend notwendigen negativen Tests könne man die Ausbreitung des südafrikanischen Typs lediglich verzögern, nicht aber verhindern, sagt Nowotny. „Dafür ist es jetzt zu spät. Richtig wäre gewesen, vor allem den Bezirk Schwaz sofort unter eine sieben- bis zehntägige Quarantäne zu stellen und alle Bewohner durchzutesten.“

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Auch dass trotz der Mutation in Schwaz genau wie im restlichen Österreich Lockerungen in Kraft traten, sorgt bei Nowotny für Kopfschütteln. Notwendig wären nun zumindest Abwassertests vor den Kläranlagen, die sich erfahrungsgemäß bestens für eine rasche Entdeckung gehäufter Mutationsfälle eigneten, sagt er.

Die Strategie, Schulen im Wechselunterricht bei gleichzeitigen Selbsttests wieder zu öffnen und in Geschäften neben der FFP2-Maskenpflicht nur einen Kunden je 20 Quadratmeter hereinzulassen, nennt der Virologe dennoch einen „gangbaren Weg“. Nowotny hält es für möglich, auf diese Weise zumindest bis Ostern in den Schulen den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. So froh Eltern und Schüler über den nun wieder möglichen Vor-Ort-Unterricht sind, so ausgelaugt seien die Lehrer, sagt Paul Kimberger, Chef der Gewerkschaft der Pflichtschullehrer.

Ein Gewerkschafter sagt: An Österreichs Schulen fehlt es "massiv an Personal"

Auch er weist darauf hin, dass die Schulen erst zu kurz und ferienbedingt auch nur in Wien und Niederösterreich wieder geöffnet hätten, um ein erneutes Infektionsgeschehen beobachten zu können. „Es gibt große Verunsicherung, auch wenn die ersten Tage im Wesentlichen passabel gelaufen sind“, sagt Kimberger.

Der Aufwand für die Lehrer sei enorm, es fehle „massiv an Personal“, und zudem sei man skeptisch, ob nach dem Ferienende in den restlichen Bundesländern wirklich alle Schulen bundesweit mit Selbsttests versorgt werden können. „Wir brauchen rund zwei Millionen Tests in der Woche, da muss die Logistik absolut passen“, sagt der Gewerkschafter.

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Foto: Ole Spata, dpa
Foto: Ole Spata, dpa

Die österreichische Regierung feiert sich als "Testweltmeister" in Sachen Corona.

Während Grundschüler die ganze Woche im Präsenzunterricht verbringen und montags sowie mittwochs direkt in der Schule getestet werden, gilt für die höheren Klassen der Wechselunterricht, freitags ist zudem Homeschooling-Tag – für die Lehrer ein doppelter Vorbereitungsaufwand, hat Kimberger festgestellt.

Er beklagt mangelnde Unterstützung vom Bund, was die Ausstattung betrifft: „Nur durch die Eigeninitiative der Lehrer und Eltern gibt es genug Endgeräte für die Schüler. Sonst gäbe es keinen Distanzunterricht.“ Hier machten sich die Versäumnisse der letzten Jahre – Stichwort digitale Schule – besonders bemerkbar.

Der Handel befürchtet eine nie da gewesene Pleitewelle

Kimberger macht Druck auf die Regierung. Die Lehrer müssten rasch durchgeimpft werden, auch die Frage der Impfungen für ältere Schüler müsse geklärt werden. Erst dann könne es zu einer merklichen Entspannung in den Schulen kommen. Lehrer sind inzwischen im österreichischen Impfplan prioritär gleich hinter dem Gesundheitspersonal, den Risikogruppen und den Älteren gereiht und sollen ab Ende März ihre Impfungen erhalten.

Die Schnelltests an den Schulen bergen zudem ein hohes Risiko. Nur rund die Hälfte der asymptomatisch-positiven Schüler wird entdeckt, musste auch ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann zugeben. „Wie insgesamt in der Gesellschaft werden auch in den Schulen die Zahlen steigen“, befürchtet Gewerkschafter Kimberger mit Blick auf die Mutationen.

Bleibt noch der Handel. Man wolle alles daran setzen, dass die nun erfolgte Öffnung auch bei steigenden Fallzahlen nicht zurückgenommen werde, sagt Rainer Will, Geschäftsführer des überparteilichen Handelsverbandes. „Jede Woche Lockdown bringt einen Verlust von einer Milliarde Euro Umsatz“, sagt er. Will drängt vor allem auf präventive Restrukturierungsmaßnahmen wie in Deutschland. Insolvenzgefährdete Betriebe müssten sich mittels Schulterschluss von Gläubigern, Banken und öffentlicher Hand rasch sanieren können. Zudem fordert er einen „Arbeitsplatzsicherungsbonus“ für die Händler. Ansonsten drohe spätestens im Herbst eine nie da gewesene Pleitewelle.

Schon wieder ließ Kanzler Kurz seinen Gesundheitsminister abblitzen

Und die Politik? In einem sind sich Experten, Lehrer- und Handelsvertreter einig: Es hätte nie so weit kommen dürfen, dass sich Tirol mit seinem südafrikanischen Corona-Cluster im Konflikt mit dem grünen Gesundheitsminister Rudolf Anschober durchsetzt. Der Preis dafür könnte hoch werden. Die nun geltenden Maßnahmen sind zum wiederholten Mal das Produkt eines vielschichtigen politischen Streits, der vor allem innerhalb der türkis-grünen Koalition in Wien tobt.

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Foto: Roland Schlager/APA, dpa
Foto: Roland Schlager/APA, dpa

Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat einen schweren Stand in der Regierung.

Statt rascher Maßnahmen gab es von Tiroler Seite fragwürdige Zahlen zu den Mutationsfällen und – rechtlich nicht einmal vorgesehene – Verhandlungen zwischen dem Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter und Anschober. Diese wurden ergebnislos abgebrochen, Platters Parteifreund Kurz versagte dem Gesundheitsminister abermals die Rückendeckung. Dann rückte Kurz selbst aus, verkündete die nun geltenden Testvorschriften bei der Ausreise aus Tirol und behauptete in regierungsnahen Zeitungen, er selbst hätte ja gerne noch härtere Maßnahmen in Tirol verordnet.

Ein Schema, das die Österreicher inzwischen gut kennen. Genau wie das Prinzip „Schau’n wir mal“.

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