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Foto: dpa
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Wohin mit den vielen Patientinnen und Patienten, die an Corona erkrankt sind? Ein erschöpfter Pfleger auf der Intensivstation eines Krankenhauses.

Interview
19.11.2021

Volle Intensivstationen: Kliniken senden dramatischen Hilferuf

Von Michael Pohl

Plus Roland Engehausen, Chef der Bayerischen Krankenhausgesellschaft, beschreibt alarmierende Zustände in den Kliniken und fordert härtere Gegenmaßnahmen der Politik.

Die bayerischen Krankenhäuser warnen angesichts ungebremst steigender Infektionszahlen vor einer unmittelbar drohenden Überlastung der Intensivstationen und fordern deutlich härtere Kontaktbeschränkungen im Freistaat. Die aktuelle Lage sei so dramatisch, wie noch nie, sagt der Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft Roland Engehausen im Interview mit unserer Redaktion.

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Wie ist die Lage in den bayerischen Krankenhäusern angesichts der stark steigenden Corona-Zahlen?

Roland Engehausen: Die aktuelle Lage ist so dramatisch, wie sie noch nie in der gesamten Pandemie-Zeit in Bayern war. Sie übertrifft die bisher schlimmste Phase zwischen Weihnachten und Neujahr letzten Jahres. Damals kam der Lockdown etwas zu spät. Wir haben jetzt zwar die Impfung, die zumindest zu 90 Prozent schützt, aber wir kämpfen jetzt auch mit der viel ansteckenderen Deltavariante. Und es gibt deutlich mehr Kontakte und damit deutlich mehr Infektionen bei den Ungeimpften. Zudem sehen wir Durchbrüche bei den Geimpften in der Altersgruppe, in der Booster-Impfungen besonders wichtig sind und noch nicht ausreichend gemacht wurden. Viele Corona-Patienten in den Klinken kommen derzeit direkt ohne Umweg auf die Intensivstation. Wir haben schon jetzt kaum noch Kapazitäten.

Was bedeutet das für die kommenden Wochen?

Engehausen: Wir liegen bei den Patientinnen und Patienten, die wir wegen Covid-19 behandeln, schon heute deutlich über dem Stand des gleichen Zeitpunkts im vergangenen Jahr. Wir haben viel höhere Inzidenzzahlen und sie steigen ungebremst weiter. Wir sehen im Moment keine ausreichend wirksamen Gegenmaßnahmen, die uns in den Kliniken in den nächsten zwei bis vier Wochen eine Entlastung bringen würden. Das macht die Lage sowohl jetzt als auch in der Perspektive der nächsten Wochen so dramatisch.

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Ab wann müssen Intensivpatienten in andere Bundesländer verlegt werden?

Engehausen: Das geschieht bereits. Aber der Weg nach Baden-Württemberg ist eigentlich bereits geschlossen, weil sich die Kliniken dort der bayerischen Situation annähern. Wir haben bislang versucht, innerhalb Bayerns zu verlegen, beispielsweise aus Schwaben über hundert Kilometer nach Unterfranken. Aber das geht vielleicht noch wenige Tage gut. Die Zahl der Corona-Intensivpatienten steigt in Bayern ohne harte Gegenmaßnahmen jede Woche um etwa 30 Prozent, sodass wir bald keine Chance mehr für Verlegungen innerhalb des Freistaats haben. Ob wir in ein paar Wochen noch jemanden nach Hessen bringen können, wissen wir nicht. Nach Thüringen und Sachsen braucht man nicht zu fahren, und im Süden in Österreich ist die Lage nicht besser als bei uns.

Was ist mit der geschaffenen Not-Reserve an Intensivbetten?

Engehausen: Die Koordination zwischen den Krankenhäusern, um alle Reserven zu mobilisieren, läuft bereits. Es wird auch die ein oder andere Reha-Einrichtung normale Krankenhaus-Behandlungen durchführen, um die Kliniken zu entlasten. Der andere Teil der Notreserve heißt, dass wir Betten mit entsprechender technischer Ausstattung haben, die wir aber wegen Personalmangels, aber auch wegen verpflichtender Personalvorgaben nicht betreiben können. Die Personalbemessung dient dem Schutz der Patienten und der Beschäftigten. Würde man den sogenannten Pflegepersonalschlüssel wie in den ersten drei Wellen aussetzen, hätten wir rein rechnerisch vielleicht bis zu 20 Prozent mehr Kapazitäten. Das könnte etwas Luft verschaffen, aber das Pflegepersonal, das sowieso am Limit arbeitet, würde zusätzlich belastet, was kaum zu verantworten wäre.

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Diese Regelung könnte, so lange die epidemischen Lage noch gilt, der Bundesgesundheitsminister außer Kraft setzen …

Engehausen: Die Personalbemessungsgrenzen können wie bei den vorherigen Pandemiewellen nur auf Bundesebene außer Kraft gesetzt werden, auf Landesebene geht das nicht. Und Kliniken verstoßen ansonsten gegen die geltende gesetzliche Regelung, wenn sie die Vorgaben brechen. Davon können wir nur abraten.

Wie ist die Versorgung für Nicht-Corona-Patienten? Viele planbare Operationen müssen derzeit verschoben werden …

Engehausen: In den Hotspot-Regionen ist es überall dramatisch, anderswo ist es unterschiedlich. Generell ist die Notversorgung sichergestellt. Der Begriff „planbare Behandlung“ sagt sich leicht, aber es geht immer darum, was medizinisch vertretbar ist. Hinter planbaren Behandlungen verbergen sich beispielsweise auch Krebs-Operationen, die derzeit verschoben werden müssen. Bei der ein oder anderen Krebserkrankung geht das vielleicht mal kurze Zeit, aber ganz sicher nicht viele Wochen oder Monate. Das ist der Punkt, warum die Lage jetzt so dramatisch ist. Wir kommen in ganz schwierige Situationen. In den letzten Wellen hatten wir harte Lockdown-Maßnahmen und konnten ausrechnen, wann er wirkt, und beispielsweise die verschobenen Krebsbehandlungen zeitlich einplanen. Diese Berechenbarkeit fehlt uns heute. Wenn wir Operationen ins Ungewisse verschieben müssen, sind das extrem schwierige Entscheidungen nicht nur für Patienten, sondern besonders auch für die Ärzte und Pflegefachkräfte, die in schwierige emotionale Situationen geraten. Nur mit der Perspektive, dass die Infektionszahlen runtergehen, macht das Verschieben planbarer Behandlungen wirklich Sinn.

Kommen wir um einen echten erneuten Lockdown herum?

Engehausen: Das ist eine Entscheidung, die die Politik treffen muss. Klar ist: Die Infektionszahlen müssen runter, um die planbaren Behandlungen, die wir jetzt verschieben, durchführen zu können. Klar ist auch: Wir brauchen deutliche Kontaktvermeidung, um die Zahlen nach unten zu bringen. Ob man das Lockdown oder anders nennt, ist für uns Kliniken zweitrangig. Aber eine deutliche Reduzierung der Kontakte ist aus unserer Sicht zwingend notwendig, um aus dieser Situation herauszukommen.

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Was haben Sie empfunden, als Sie die Nachricht hörten, dass man in Salzburg für den Notfall schon Triage-Teams bildet?

Engehausen: Wir haben zur Kenntnis genommen, dass dort ein Team gebildet wurde. Das ist vielleicht auch ein Signal an die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen gewesen, das vielleicht weniger mit klinischen Gesichtspunkten zu tun hat. Wir sehen eine derartige Situation an bayerischen Kliniken nach wie vor nicht. Wir haben die Möglichkeit, planbare Behandlungen zu verschieben, Patienten über längere Strecken in Regionen zu verlegen, die weniger belastet sind, und andere Mittel. Ich gehe fest davon aus, dass die Politik härtere Maßnahmen zur Kontaktvermeidung verhängen wird, bevor wir in Deutschland in eine Situation kommen, über eine solche Form der Triage entscheiden zu müssen.

Hat Sie der starke Anstieg der Intensivpatientenzahlen in den vergangenen Wochen überrascht?

Engehausen: Wir waren mit dem Blick auf den Herbst immer sehr vorsichtig und sehr skeptisch. Ich gebe aber zu, die Dynamik, die wir seit dem 22. Oktober sehen, hat unsere sehr pessimistischen Erwartungen noch übertroffen. Der 22. Oktober war der Kipppunkt, seitdem haben wir stark steigende Inzidenzzahlen und damit einhergehend steigende Intensivbehandlungen. Wir sind in ein Hamsterrad geraten, das sich immer weiter beschleunigt. Leider wären die allermeisten unserer Intensivfälle vermeidbar durch Impfen gewesen. Gerade jetzt ist es für jeden einzelnen Menschen wichtig, sich impfen zu lassen, nicht nur aus Solidarität, sondern auch weil die Versorgung nicht mehr optimal ist, wie man es vielleicht noch vor ein paar Wochen dachte.

Zur Person: Roland Engehausen, Betriebs- und Volkswirt, ist seit Ende 2020 Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft.

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