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Foto: Peter Kneffel, dpa
Foto: Peter Kneffel, dpa

Eine Figur des emeritierten Papstes Benedikt XVI. an einer Fassade am Kapellenplatz im Zentrum von Altötting.

Katholische Kirche
20.01.2022

Studie zu Missbrauch im Münchner Erzbistum belastet Papst Benedikt und Kardinal Marx

Mindestens 497 Betroffene und 235 mutmaßliche Täter: Das sind die Zahlen einer Studie zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising. In der Studie geht es auch um Fehlverhalten.

Eine neue Studie zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising listet mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche im Zeitraum zwischen 1945 und 2019, teilte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) am Donnerstag in München mit. Sie hatte das Gutachten im Auftrag der Erzdiözese erstellt. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie – darunter 173 Priester und 9 Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen.

Die neue Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden, so die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach "einschlägiger Verurteilung", wie Rechtsanwalt Martin Pusch von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern "gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter" unterblieben.

Gutachten zu sexuellem Missbrauch: Fehlverhalten Benedikts als Erzbischof

Das Gutachten lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising an. Das sagte der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des Gutachtens in München. In allen Fällen habe Benedikt – damals Kardinal Joseph Ratzinger – ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen. Der emeritierte Papst war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Er habe umfangreich Stellung zu den Vorwürfen genommen, betonte Pusch. Dies sei im Wortlaut Teil des Gutachtens enthalten.

Kritiker werfen Ratzinger schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten vor – konkret beim Umgang mit einem Priester aus Nordrhein-Westfalen. Laut Missbrauchsgutachten ist der emeritierte Papst 1980 als Erzbischof von München und Freising bei einer brisanten Sitzung anwesend gewesen. In dieser Sitzung wurde entschieden, dass ein bekanntermaßen pädophiler Priester aus Essen in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werde. Benedikt, der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, bestreitet dies und versichert, er habe an der Sitzung nicht teilgenommen. Der Gutachter Ulrich Wastl präsentierte jedoch eine Kopie des Sitzungsprotokolls, wonach Ratzinger durchaus teilnahm. Demnach berichtete er in der Sitzung unter anderem von Gesprächen mit Papst Johannes Paul II. Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für "wenig glaubwürdig", sagte Wastl. Der übernommene Priester missbrauchte anschließend erneut Kinder.

Fehlverhalten des früheren Erzbischofs Wetter dargestellt

Das Gutachten wirft auch dem früheren Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, 21 Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Jurist Martin Pusch.

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Das Gutachten stellt der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein "Paradigmenwechsel" mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Martin Pusch am Donnerstag. "Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden." Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Die "Wahrnehmung der Geschädigtenbelange" sei "auch nach 2010 unzulänglich". Pusch sieht ein "generelles Geheimhaltungsinteresse" und den "Wunsch, die Institution Kirche zu schützen".

Vorwürfe auch gegen Kardinal Reinhard Marx

Das neue Gutachten wirft auch dem Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom, wie die Anwaltskanzlei WSW mitteilte.

Kardinal Reinhard Marx hat am Donnerstag nicht an der Vorstellung eines lange erwarteten Gutachtens zu sexuellem Missbrauch in seinem Bistum teilgenommen. "Er hat sich entschieden, dieser Einladung nicht zu folgen", sagte die Anwältin Marion Westpfahl am Donnerstag in München. "Wir bedauern sein Fernbleiben außerordentlich." Marx hat für den Nachmittag eine Stellungnahme angekündigt.

Der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, nennt das Gutachten eine "historische Erschütterung" der Kirche. "Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in München.

Einige Taten hätten nur darum stattfinden können, weil Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising die Entscheidung getroffen habe, einen Missbrauchstäter in seinem Bistum einzusetzen. Das "täterzentrierte System" sei "an der Spitze belastet", sagte Katsch - "im Vatikan, da wo Benedikt bis heute sitzt und leugnet". "Jeder, der das jetzt hier gerade miterlebt hat, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist."

Vatikan will Gutachten einsehen und Details prüfen

Der Vatikan will in den kommenden Tagen detailliert auf das für das Erzbistum München und Freising veröffentlichte Missbrauchsgutachten blicken. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni, am Donnerstag. "Im Bekräftigen des Gefühls der Schande und der Reue für den von Geistlichen begangenen Missbrauch an Minderjährigen, sichert der Heilige Stuhl allen Opfern seine Nähe zu und bestätigt den eingeschlagenen Weg für den Schutz der Kleinsten, indem ihnen ein sicheres Umfeld garantiert wird", hieß es weiter.

Pater Hans Zollner, Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen und externer Berater des Vatikan, forderte unterdessen, dass sich der emeritierte Papst Benedikt XVI. noch mal zu dem Gutachten äußern solle. Diejenigen, die missbraucht wurden, bräuchten nun Gerechtigkeit und Zuwendung, forderte Zollner. "Für eine wirkliche Aufarbeitung sind die menschliche, psychische und spirituelle Seite wichtig. Nur dann begreift man, was mit den Opfern passiert ist." Es sei erschreckend, dass das nicht von der Kirche gesehen wurde, kritisierte der deutsche Jesuit. Die Reformbewegung "Wir sind Kirche" hofft auf weitere Untersuchungen in Deutschland. Sie forderte, "dass alle deutschen Bistümer unverzüglich und möglichst nach gleichem Standard Missbrauchsgutachten vorlegen, die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen", hieß es in einer Mitteilung der Organisation. (dpa)

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