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Foto: Reiner Zensen, dpa
Foto: Reiner Zensen, dpa

Der Jurist Reinhard Merkel.

Interview
12.05.2022

Reinhard Merkel: „Es gibt jetzt die Chance auf den Stillstand der Waffen“

Von Richard Mayr

Der Jurist Reinhard Merkel hat den offenen Brief an Kanzler Scholz in der Emma mitverfasst. Er sagt, dass anwachsende Waffenlieferungen den Ukraine-Krieg verlängern.

Herr Prof. Dr. Merkel, Sie haben einen Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz mitverfasst, der im Online-Portal der Emma veröffentlicht worden ist. Sie baten den Kanzler, die Ukraine nicht mit schweren Waffen zu unterstützen. Warum sollte Deutschland das besser nicht tun?

Reinhard Merkel: Der Appell an den Bundeskanzler hatte auch einen symbolischen Unterton. Deutschland liefert ja Waffen. Aber wer Waffen liefert, kann Bedingungen mitformulieren, die die Folgen dieser Lieferungen betreffen. Unser Appell war, dass die Bundesregierung eben das jetzt tun sollte. Die anwachsende militärische Unterstützung für die Ukraine verlängert den Krieg. Und das verweist auf die beiden normativen Grenzlinien, die wir formulieren. Ich habe nichts dagegen, dass die Bundesregierung Waffen geliefert und damit gezeigt hat, auf welcher Seite sie steht. Darüber gibt es keinerlei Dissens. Wir sagen mit dem Brief, dass das Intensivieren der Waffenlieferungen zur unabsehbaren Verlängerung dieses abscheulichen Krieges beiträgt. Und dass jetzt die Chance für etwas Besseres gegeben ist: den Stillstand dieser Waffen.

Wollen Sie damit sagen, dass ein Stopp der Waffenlieferungen schneller zu einer Niederlage der Ukraine führt?

Merkel: Das ist uns zigfach vorgehalten worden. Den Inhalt des Briefs verfehlt es völlig. Das akute Kampfgeschehen soll nicht verlängert, sondern durch einen Waffenstillstand beendet werden, einen Kompromiss also, der natürlich noch kein Friedensvertrag ist. Den wird es wohl noch in 20 Jahren nicht geben. Möglich erscheint ein Waffenstillstand jetzt durch die Position relativ gleichwertiger militärischer Stärke beider Konfliktparteien. Selbstverständlich wäre es für die Ukraine inakzeptabel, zu sagen: Wir geben auf, macht mit uns, was ihr wollt. Aber von der Position einer solchen kapitulationsreifen Schwäche ist die Ukraine derzeit weit entfernt. Sie ist auf dem Schlachtfeld sogar ein bisschen in der Vorhand, massiv und hocheffizient unterstützt von den USA, aber auch durch die Waffenlieferungen vieler anderer Staaten. Die US-Hilfe besteht vor allem in der Lieferung sogenannter „Intelligence“-Daten. Sie diktieren den Raketenstellungen der Ukraine sozusagen die Zielkoordinaten für ihre Attacken.

In vielen Entgegnungen ist Ihnen unterstellt worden, dass Sie die Ukraine zur Kapitulation auffordern.

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Merkel: Das ist ein Lüge. Leider kennzeichnet sie diese Debatte. Wir schreiben, dass ein Kompromiss gefunden werden muss, der für beide Seiten akzeptabel ist. Außerdem betonen wir, dass Russland der Aggressor ist, die Grundnorm des Völkerrechts verletzt und damit dessen Fundament bedroht. Und wir sagen, dass die Ukraine nicht nur das Recht, sondern sogar eine politisch-ethische Pflicht hat, sich zu wehren. Was das mit „Kapitulation“ zu tun haben soll, ist unerfindlich.

Nun heißt es in dem Brief, dass es Grenzlinien gibt, die die Ukraine bei ihrer Gegenwehr nicht überschreiten darf. Wie ist das zu verstehen?

Merkel: Das Verhältnis zwischen Aggressor und Angegriffenem legt eine Analogie aus dem individuellen Recht zwischen Personen nahe: Wenn A den B angreift, entscheidet B allein, wie und bis zu welchem Ende er sich wehrt, und wäre es sein eigener Tod. Aber das Modell passt nicht für den Krieg. Die Regierung eines angegriffenen Landes entscheidet über eine kollektive Notwehr für Millionen, unter ihnen viele Tausende, denen die „Kosten“ des Leidens und Sterbens auferlegt werden. Unter den 40 Millionen Ukrainern sind aber Millionen, die der Einwilligung in diesen Preis nicht einmal fähig sind. Lassen Sie mich das Problem in einem Gedankenexperiment zuspitzen. Würde die militärische Abwehr bis zum Tod des allerletzten ukrainischen Zivilisten befohlen und durchgehalten, dann wäre nicht nur das Unrecht der Aggression, sondern auch das moralische Unrecht dieser Verteidigung evident. Es gibt dafür eine zwingende Grenze, natürlich in einer breiten Grauzone der Unsicherheit. Die Ukraine soll nicht kapitulieren. Sie soll ihre Bereitschaft zu Verhandlungen und damit zu Konzessionen signalisieren und diese in gleichem Maß von Russland verlangen. Vor sechs Wochen hat Präsident Selenskij das noch gemacht, seither nicht mehr.

Warum glauben Sie, dass die Ukraine nicht mehr bereit ist, zu verhandeln?

Merkel: Ich glaube, die Maßgabe dafür kommt aus Washington. Ich bin, dies vorweg, ein großer Bewunderer der USA und ihrer kulturellen Leistungen. Aber was der amerikanische Außenminister vor zwei Wochen bei seinem Besuch in Kiew gesagt hat, ist vor dem Hintergrund dieses Krieges und seiner beklemmenden Eskalationsrisiken ein Beispiel von kaltem geopolitischen Zynismus: Ziel des Krieges sei es, die Macht Russlands so entscheidend zu schwächen, dass es so etwas wie in der Ukraine nie wieder tun kann. Wie das in Moskau wahrgenommen wird, liegt auf der Hand. Danach ist das ukrainische Kriegsziel nicht mehr nur die Abwehr des Aggressors, sondern dessen substanzielle geopolitische Entmachtung. Damit haben sich auch die Amerikaner ein potenzielles Problem der Gesichtswahrung zugezogen: Sie selbst sind es nun, die zusammen mit der Ukraine diesen Krieg nicht mehr verlieren dürfen. Das ist ein atemberaubendes Eskalationspotenzial.

Wie könnte die Eskalation Ihrer Meinung nach vonstatten gehen?

Merkel: Die Russen haben längst verstanden, dass sie mit Panzerschlachten wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts diesen Krieg nicht gewinnen können. Aber aus ihrer eigenen Sicht dürfen sie ihn auch nicht verlieren. Das ist das Potential zur Eskalation. Jetzt sagen die Amerikaner, Russland muss militärisch entmachtet werden. Die Russen werden nun gewiss nicht einfach taktische Atomwaffen erwägen. Als erste Stufe ihrer Eskalation stünde vermutlich etwas anderes an: die flächendeckende Bombardierung der großen Städte. Das ist ein Typus schwerer Kriegsverbrechen. Gingen die Russen, falls der Verlauf auf den Schlachtfeldern für sie noch schlechter würde, dazu über, wäre Amerika auf der Stelle gefordert mit einer adäquaten Reaktion - vermittelt natürlich über die ukrainische Armee. Die Amerikaner müssten ihre Unterstützung noch einmal massiv verstärken.

Wie viel Gegenwehr darf die Ukraine leisten?

Merkel: Sähe das Land hinterher so aus wie Deutschland im Mai 1945, wäre der Preis für die Selbstverteidigung zu hoch gewesen. Die Ukraine sollte deshalb unter Wahrung ihrer substanziellen Interessen, aber mit Konzessionsbereitschaft verhandeln. Ich fürchte nur, die Maßgabe, das jetzt nicht zu tun, kommt aus Washington. Ich mag mich irren, aber ich vermute es. Mit diesem Risiko der Eskalation müssten sich die vernünftigen Köpfe in unserem Land befassen. Wir dürfen, ja müssen die Ukraine unterstützen; sie ist Ziel eines Aggressionskriegs. Freilich sind verglichen mit der massiven Unterstützung durch die USA die deutschen Panzer von eher symbolischem Wert. Zur vernünftigen Symbolik würde aber auch gehören, dass der Bundeskanzler im Hintergrund auf diplomatischen Wegen die Waffenlieferungen verbindet mit dem Postulat, die Bereitschaft zu Waffenstillstandsverhandlungen wieder zu deutlich zu machen. Moskau sieht doch, dass es den Krieg in vielen Hinsichten, politisch, ökonomisch, in Teilen sogar militärisch verloren hat. Unter der Bedingung, das Gesicht der atomaren Weltmacht zu wahren, wäre es wohl zu Verhandlungen bereit.

Was befürchten Sie, wenn es nicht zu Verhandlungen kommt?

Merkel: Läge nach einem Abzug der Russen die Ukraine in Schutt und Asche, wüsste ich nicht, welchen Sinn die Rede vom „Sieg“ der Ukraine noch haben könnte. Noch greift Russland nicht zum Äußersten. Bislang ist von 4000 zivilen Opfern im Krieg die Rede. Im Aggressionskrieg der USA und Englands gegen den Irak gingen die Opferzahlen schon nach Wochen in die Zehntausende; heutige Schätzungen reichen bis zu einer Million. Das heißt: Die mörderische Maschinerie des russischen Militärs, nämlich seiner Luftwaffe, ist noch längst nicht vollständig entfesselt. Die Russen halten sich vermutlich noch an das Verbot, gezielt zivile Ziele anzugreifen, obwohl das in Einzelfällen vorzukommen scheint. Die Kriegsverbrechen dürften eher darin bestehen, dass die Russen rücksichtslos bombardieren und es zu vielen kollateralen zivilen Opfern kommt. Auch das sind Kriegsverbrechen. Aber wir sollten aufhören, Teufelsgeschichten zu erzählen. Was Russland im Moment tut, ist furchtbar genug. Aber würde es wie die Alliierten im Zweiten Weltkrieg flächendeckend bombardieren, gingen die Opferzahlen wohl in die Hunderttausende.

Waffenstillstandsverhandlungen, an deren Ende Russland einen Teil der Ukraine besetzt halten wird: Das klingt wie eine Rückkehr zum Krieg des 19. Jahrhunderts, in dem Aggressoren mit Gebietsgewinnen herauskommen. Würde dadurch nicht der alte Nationalstaatskrieg wahrscheinlicher?

Merkel: Gute Frage. Aber der gegenwärtige Status Quo besteht nun einmal darin, dass Russland Teile der Ukraine kontrolliert, also Geländegewinne erzielt hat. Diese könnte die Ukraine in Waffenstillstandsverhandlungen nicht als dauerhafte anerkennen. Aber die völkerrechtliche Klärung dieses Annexions-Zustands müsste auf einen späteren Friedensvertrag vertagt werden. Das kennen wir aus dem 20. Jahrhundert nicht. In beiden Weltkriegen gab es am Ende bedingungslose Kapitulationen der total Geschlagenen. Waffenstillstandsverhandlungen in der Ukraine heute wären etwas anderes. Vielleicht mutet die Idee historisch antiquiert an. Aber jetzt ist der Versuch jedes halbwegs denkbaren Wegs, dieses abscheuliche Gemetzel zu beenden, moralisch geboten.

Zur Debatte

Vor anderthalb Wochen haben 28 Intellektuelle um Alice Schwarzer einen offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz geschickt, in dem sie ihn baten, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefen. Mitverfasser war der Jurist Prof. Reinhard Merkel. In dem Brief hieß es, dass Kanzler Scholz zu einem Waffenstillstand beitragen soll. Umstritten war vor allem folgende Passage: „Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“ Auf Change.org haben bereits 270.000 Menschen diesen Brief mitunterzeichnet.

Vor einer Woche ist im Online-Portal der Zeit ein Gegenaufruf verfasst worden – initiiert von Ralf Fücks, mitunterzeichnet unter anderem von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und der Historikerin Prof. Hedwig Richter. Sie unterstützen den Kanzler, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Dort heißt es: „Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen.“ Dieser Aufruf ist bislang von 66.000 Menschen unterzeichnet worden.

Wir haben das Gespräch mit beiden Seiten gesucht und sowohl mit Prof. Hedwig Richter als auch mit Prof. Reinhard Merkel jeweils ein Interview geführt.

Zur Person

Reinhard Merkel, geboren 1950 in Hof, ist emeritierter Professor für Recht und Strafrecht an der Uni Hamburg. Er hat sich schon mehrfach in öffentlichen Debatten geäußert, etwa zum Syrienkonflikt.

Zur Gegenposition von Prof. Hedwig Richter geht es hier.

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