i
Foto: Boris Roessler, dpa
Foto: Boris Roessler, dpa

200.000 Passagiere nutzen täglich den Flughafen Frankfurt. Derzeit bleiben viele am Boden. Das wirkt sich auf andere Flughäfen aus - etwa auf den Franz-Josef-Strauß-Airport in München.

Flugverkehr
22.07.2022

Wegen Chaos am Frankfurter Flughafen stapeln sich auch in München die Koffer

Von Arne Bensiek

Plus Auf Deutschlands größtem Flughafen in Frankfurt sammeln sich herrenlose Koffer und gestrandete Urlauber. Und das Problem droht noch größer zu werden.

Der Ort, an dem dieser Tage tausende Urlaube enden, bevor sie richtig begonnen haben, liegt in Terminal eins, Bereich B des Frankfurter Flughafens. Unter einer niedrigen Decke mit grauer Lamellenverkleidung reihen sich hier 20 Schalter der Lufthansa aneinander, auf allen Bildschirmen steht „Umbuchung/Rebooking" – und davor eine circa 150 Meter lange Schlange von Flugreisenden, die auf ihrem Weg in die Ferien unfreiwillig auf Deutschlands größtem Flughafen gestrandet sind. In ihrer Hoffnung, Verzweiflung oder Wut warten sie dicht gedrängt zwischen blauen Absperrgurten auf einen Plan B.

Weiterlesen mit dem PLUS+ Paket
Zugriff auf alle PLUS+ Inhalte. Jederzeit kündbar.
JETZT AB 0,99 € TESTEN

Ein freundliches Lächeln bringen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lufthansa hinter ihren Schaltern nicht mehr zustande. Zu machtlos sind sie derzeit, was einen Plan B angeht, der dem Plan A nahekommt. Tausende Flüge, die in den Sommermonaten stattfinden sollten, hat die Airline gestrichen, um Flughäfen zu entlasten. Betroffen sind Frankfurt und der Münchner Franz-Josef-Strauß-Airport. Auch dort stockte zuletzt der Betrieb, auch dort stapelt sich das Gepäck. Oft ist das ein Resultat der Probleme in Frankfurt, wie sich noch herausstellen wird. Denn der größte Flughafen des Landes ist in diesen Wochen Drehkreuz für nahezu alles, was den Luftverkehr stört.

i
Foto: Andreas Arnold, dpa
Foto: Andreas Arnold, dpa

Im August streicht allein die Lufthansa 2000 Flüge.

Dem Frankfurter Flughafen fehlen nach massiven Entlassungen in der Corona-Pandemie hunderte Beschäftigte beim Bodenpersonal. Koffer bleiben liegen, Flugzeugkabinen werden nicht rechtzeitig gereinigt, Flüge verspäten sich und sorgen damit für weiteres Chaos im Flugplan und im Leben vieler Reisender.

Reisechaos in Frankfurt: Am Schalter statt am Strand

Akio Sato zögert noch, ob er sich in die lange Schlange vor den Umbuchungsschaltern einreiht. Drei Stunden dauere es, bis man dran sei, habe er gehört. „Eigentlich würde ich jetzt schon in Zypern am Strand liegen, aber unsere Lufthansa-Maschine aus Oslo hatte gestern Verspätung, sodass wir den Anschlussflug nach Larnaca um zehn Minuten verpasst haben“, berichtet der Mittdreißiger, der einen grauen Jogginganzug trägt, erstaunlich nüchtern. Eine Woche Urlaub habe seine Familie auf der Mittelmeerinsel geplant; die erste Nacht davon verbrachte Familie Sato in einem Hotel am Frankfurter Flughafen. „Unser Problem ist, dass wir zu zehnt sind und alle Flüge von Frankfurt nach Zypern in den kommenden Tagen ausgebucht sind“, sagt Sato. Er und seine Familie wüssten jetzt, dass es aktuell keine gute Idee ist, über Frankfurt zu fliegen. Was sie nicht wissen, ist, wie ihre Reise weitergeht und wie sie an ihr Gepäck kommen.

Unweit der Gestrandeten, in der großen Terminal-Halle, geht eine Dame mit langem blondem Haar, gelber Warnweste und Lufthansa-Ausweis in die Offensive. Menschen, die verloren vor dem Abflugplan stehen, spricht sie an: „Can I help you?“, um diese dann mit verständnisvollem Nicken in Richtung der Umbuchungsschalter zu dirigieren. Überraschenderweise sollen an diesem Morgen beinahe alle der rund 80 Flüge auf der Anzeigentafel tatsächlich stattfinden. „Cancelled“ steht lediglich hinter Düsseldorf um 8.55 Uhr, Dresden um 9.10 Uhr und London um 10.00 Uhr. Was das Gesamtbild jedoch deutlich schönt, sind die diversen Fernzugverbindungen der Deutschen Bahn, die seit kurzem auf dem Abflugplan aufgeführt werden. Zwischen Dallas–Fort Worth und Dubai-International steht nun Dresden–Leipzig–Erfurt, ein offenbar pünktlicher ICE um 11.02 Uhr vom benachbarten Fernbahnhof.

Lesen Sie dazu auch

Der Koffer fehlt – und die Antibabypille

Alles, was am Flughafen zurzeit nicht nach Plan läuft, wird von Betroffenen in sozialen Medien rachlüstern dokumentiert. In der Lufthansa-Maschine LH191 von Berlin nach Frankfurt wendet sich der Kapitän vor dem Abflug resigniert an die Fluggäste: „Wir starten mit einer Stunde Verspätung, da die Maschine schon verspätet in Berlin angekommen ist. Mit den Gründen möchte ich sie nicht langweilen.“ Eine junge Frankfurterin, die mit Freunden sieben Tage in Lissabon war, berichtet, ihre Lufthansa-Maschine müsse ohne Gepäck gestartet sein. Am Zielort habe sie drei Tage auf die Ankunft ihres Koffers samt Antibabypille gewartet.

i
Foto: Hannes P. Albert, dpa
Foto: Hannes P. Albert, dpa

Glücklich, wer gerade seinen Koffer findet.

Wie groß der Imageverlust und der wirtschaftliche Schaden ausfallen, den sich Deutschlands größte Fluggesellschaft in diesen Wochen einhandelt, mag das Unternehmen weder beziffern noch kommentieren. „Unser Personal gibt in dieser schwierigen Situation sein Bestes, um den Passagieren zu helfen“, sagt eine Sprecherin des Konzerns. Gleichwohl kämpft die Airline – nicht zuletzt wegen der Überlastung ihrer Mitarbeitenden – derzeit mit einem Krankenstand von rund 30 Prozent. Das macht dem Flughafenbetreiber Fraport die Arbeit nicht leichter. Die massiven Flugstreichungen sollen Fraport helfen. Sie wirken sich allerdings auch auf andere große Flughäfen wie Düsseldorf, München und Berlin aus. Dass Lufthansa-Beschäftigte in Frankfurt vorübergehend beim Umschlag des Gepäcks unterstützen könnten, ist aus Sicht der Airline keine denkbare Lösung.

Mit Blick auf die beginnenden Schulferien in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland sieht die Fluggesellschaft die Reisenden in der Verantwortung: „Passagiere können einen Teil dazu beitragen, dass in der Hauptreisezeit alles möglichst reibungslos klappt, indem sie drei Stunden vor Abflug am Flughafen sind oder ihr Gepäck schon am Vortag einchecken, wenn sie in der Nähe des Flughafens wohnen.“

Der Flug der Lufthansa ist mit 35 Personen überbucht

Beate Bender und ihr Mann Reiner haben genau das getan. Das Rentnerehepaar ist extra schon am Vorabend mit dem Zug aus Hamm nach Frankfurt gereist, um keine böse Überraschung zu erleben. Eine Stunde bevor ihr Lufthansa-Flug – zufällig auch nach Larnaca – abheben soll, stehen sie in der Schlange für eine Umbuchung. „Uns wurde beim Check-in gesagt, der Flug sei mit 35 Personen überbucht“, sagt Beate Bender und verzieht das Gesicht. Ein Ärgernis, das es nicht erst seit der Corona-Pandemie gibt, das aber schwerer ins Gewicht fällt, wenn angesichts tausender gestrichener Flüge die Alternativen verschwinden. Familie Bender und Familie Sato sind nun unfreiwillig Konkurrenten.

Zwei Stunden müssen die Benders voraussichtlich noch warten, bis man ihnen sagt, ob und wann sie eine Aussicht darauf haben, ihr Urlaubsziel zu erreichen. Aus einem großen blauen Regal, das zwischen den Warteschlangen aufgebaut ist, hat Ehemann Reiner zwei Trinkpäckchen geholt. „Kostenlos für Lufthansa-Gäste“ steht auf dem Regal, auf dem Trinkpäckchen „Durstlöscher“ – Trostspender wäre passender. Wobei die Benders ihren außerplanmäßigen Aufenthalt mit Fassung tragen. „Ich habe mich heute an der Hotline unseres Reisevermittlers schon genug aufgeregt“, seufzt Beate Bender. Zum ersten Mal Zypern, 19 Tage, Hotel und Mietwagen, türkisblaues Wasser und frischer Fisch schwebten ihr vor; stattdessen hat sie nun Frankfurt am Bein. „Vielleicht fahren wir nachher mit dem Zug zurück nach Hause und machen dann Urlaub in Holland“, sagt Bender und zuckt mit den Schultern.

i
Foto: Julia Cebella, dpa
Foto: Julia Cebella, dpa

Viele Flüge starten derzeit verspätet oder gar nicht.

Wie lange das Chaos am Frankfurter Flughafen anhält und wie sich die Wartezeit vor den Umbuchungsschaltern in den kommenden Wochen entwickeln wird, hat allein der Flughafenbetreiber Fraport in der Hand. „In diesem Jahr konnten wir bereits über 1000 Neueinstellungen in der Flugzeug- und Gepäckabfertigung durchführen“, betont eine Fraport-Sprecherin. „Trotzdem wird die Rekrutierung weiterlaufen, denn wir brauchen aufgrund der besonderen Herausforderungen noch mehrere hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Nach Angaben der Branchenverbände sind hierzulande bei den Bodendienstleistern 2000 offene Stellen zu besetzen. Das Bundesarbeitsministerium hat kurzfristig rechtliche Hürden abgebaut, um den Flughafenbetreibern zu ermöglichen, vorübergehend Leiharbeiter etwa aus der Türkei anzuheuern. Die Voraussetzungen sind allerdings nicht trivial: zertifizierte Gefahrgutschulungen, eine Zuverlässigkeitsüberprüfung nach deutschen Vorgaben sowie gewisse Deutschkenntnisse. Erschwerend kommt hinzu, dass die türkische Regierung die heimischen Fachkräfte nicht einfach ziehen lassen will. Für die jetzige Hauptferienzeit dürften die Neueinstellungen ohnehin zu spät kommen. Bis zu 200.000 Passagiere erwartet Fraport täglich.

Koffer aus Frankfurt landen am Flughafen München

Um das Chaos in Frankfurt zu lindern, lässt Lufthansa neuerdings 5000 Koffer, die jeden Tag in Frankfurt zurückbleiben, per Lastwagen nach München transportieren, um sie zu lagern oder im Idealfall von dort aus ihren Besitzern hinterherzufliegen. Zwar kommt es durch Flugstreichungen und Verspätungen auch an Deutschlands zweitgrößtem Flughafen zu chaotischen Zuständen. Der Flughafenbetreiber der bayerischen Landeshauptstadt, der Land, Bund und Kommune gehört, hat nach eigenen Angaben während der Corona-Pandemie aber nur 13 Prozent seines Personals entlassen. Bei der Fraport AG, die 2020 einen Verlust von 690,4 Millionen Euro machte, waren es laut Jahresabschluss 2021 mehr als 4300 der 22.000 Beschäftigten, die sich einen neuen Job suchen mussten und nun für eine Rückkehr offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Dass man in München personell gut aufgestellt sei, bestätigte kürzlich auch die Münchner Flughafen-Sprecherin Corinna Born. „Wir können theoretisch alles gut abwickeln, aber nicht, wenn das weltweite System aus den Fugen gerät, Flieger später ankommen und später rausgehen", sagte sie unserer Redaktion.

In der Gepäckausgabe des Frankfurter Terminals eins warten Passagiere aus Bangalore, Izmir, Seattle, Tel Aviv und Warschau auf ihre Koffer. Auf einem Monitor eines stillstehenden Gepäckbandes heißt es: „Aufgrund temporärer Engpässe in der Abfertigung kommt es in der Gepäckausgabe zu Verzögerungen.“ Gleich daneben stehen dutzende abgeladene Koffer. Die Besitzer sind offenbar nach vergeblichem Warten entnervt abgezogen und haben dem Flughafenpersonal damit neue Arbeit beschert. Selcuk Özden, ein junger Mann mit gepflegtem Vollbart und weißen Sneakern, ist gerade mit einer Sun-Express-Maschine aus Izmir zurückgekehrt. Zusammen mit seiner Mutter wartet er auf zwei Koffer. „Die kommen gleich“, sagt er und deutet auf das rollende Band. Anders als auf dem Hinflug, als das Flugzeug mit drei Stunden Verspätung gestartet sei, weil das Gepäck nicht geladen wurde. „Wir haben die ganze Zeit im Flieger gewartet und nicht erfahren, wo das Problem ist“, sagt Özden. „Ich habe trotzdem einen schönen Urlaub gehabt, aber ich bin jetzt froh, dass ich erst einmal nicht mehr fliegen muss.“

Facebook Whatsapp Twitter Mail