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Foto: Alexander Kaya (Archivbild)
Foto: Alexander Kaya (Archivbild)

Droht nun die Eskalation? Die Stadt Ulm hat angekündigt, die neue Verfügung gegen die "Spaziergänge" "mit robusten Kräften" durchsetzen zu wollen.

Ulm
22.07.2022

Neue Verfügung gegen Spaziergänge: Greift die Polizei jetzt rigoros durch?

Von Michael Kroha

Polizistin sexuell belästigt, ein Hitlergruß und vieles mehr: Die Stadt Ulm sieht durch die "Spaziergänge" die öffentliche Sicherheit gefährdet. Kommt es zur Eskalation?

Kommt es jetzt gar zur Eskalation? Die Stadt Ulm hat am Donnerstag überraschend eine neue Allgemeinverfügung gegen die weiterhin nicht angemeldeten sogenannten "Spaziergänge" erlassen. Besonders eine Formulierung in der Mitteilung der Stadt birgt dabei eine gewisse Brisanz. Stadt und Polizei seien entschlossen, die Einhaltung der Vorgaben "mit robusten Kräften" durchsetzen zu wollen. Doch was heißt das? Greifen die Ordnungshüter nun also rigoros durch, wenn sich Teilnehmende nicht an die Vorgaben halten? Und warum (erst) jetzt?

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In der Stadt, vor allem im Stadtrat, wurde von vielen schon seit Langem ein restriktiveres Vorgehen gegen die Demonstrierenden verlangt. Auch ein generelles Verbot dieser Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen wurde zum Teil gefordert. Aber so weit kam und kommt es auch jetzt - zumindest noch nicht ganz. Zwar wurden Spaziergänge für den Montag untersagt. Am Freitag aber dürfen sie weiterhin durch die Stadt ziehen. "Eine Versammlung kann nicht 'verboten' werden, weil uns das Thema nicht passt", sagt Rainer Türke, Leiter der Ulmer Bürgerdienste, dem Ordnungsamt der Stadt Ulm. Das Versammlungsrecht sei ein so hohes Grundrecht, dass Menschen das Recht hätten, beinahe jeglichen Quatsch von sich zu geben.

Corona-Spaziergänge in Ulm: Diese neuen Regeln gelten jetzt

Jedoch gibt es nun mehrere, neue Auflagen. So ist zum Beispiel für die Demo eine genaue Laufstrecke vorgegeben - mit folgenden Stationen:

  • Münsterplatz (Aufzug Beginn)
  • Lautenberg
  • Weinhofberg
  • Fischergasse
  • Donauschwaben-Ufer
  • Adlerbastei-Uferweg
  • Valckenburgufer
  • Gänswiesenweg
  • Friedrichsau (Aufzug Ende)

Außerdem darf nur noch eingeschränkt getrommelt werden. Am Anfang und zwischendurch drei Mal fünf Minuten lang. Die Anzahl der Trommeln wird auf eine Trommel pro 25 Versammlungsteilnehmer begrenzt. Alle Reden, Transparentaufschriften, Liedtexte oder sonstige Kennzeichen/Schriften beziehungsweise bildlichen oder plastischen Darstellungen haben den öffentlichen Frieden zu wahren. Das Mitführen von Abzeichen oder Fahnen, die in Zusammenhang mit verbotenen Vereinigungen stehen, ist ebenfalls untersagt. Sämtliche Abfälle, die bei der Versammlung anfallen, sind zu entfernen und selbst zu entsorgen. Den Weisungen der Polizei ist Folge zu leisten.

Wie "Spaziergänger" der Polizei auf der Nase herumtanzen

Dass vor allem Letzteres bei den "Spaziergängen" in den vergangenen Wochen und Monate eher weniger bis gar nicht der Fall war, lässt sich aus der Begründung der elf Seiten langen Allgemeinverfügung herauslesen. Mehrere "gescheiterte" Maßnahmen der Polizei sind aufgeführt. Hier eine stichprobenartige Chronologie der zum Teil erschreckenden Ereignisse:

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  • Schwörfreitag, 15. Juli: "Der Versuch der Polizei, mithilfe einer losen Sperrung mit Einsatzfahrzeugen den Aufzug zu "kanalisieren", scheiterte. [...] die Teilnehmer ignorierten diese Sperrung und umliefen sie."
  • Freitag, 1. Juli: "... überlief die zahlenmäßig deutlich den Einsatzkräften überlegene Menschenmenge eine Polizeikette und marschierte auf der Busspur weiter."
  • Freitag, 3. Juni: "Der Aufzug überrannte dabei eine polizeiliche Absperrung, um auf die Straßenbahntrasse zu gelangen und dort weiterzumarschieren."
  • Freitag, 20. Mai: "Einsatzkräfte der Polizei wurden mit Trillerpfeifen auf Ohrenhöhe angepfiffen; in der Folge erlitten mehrere Polizeibeamte eine Hörbeeinträchtigung. Eine Polizeibeamtin wurde sexuell belästigt."
  • Freitag, 13. Mai: "Ein Versammlungsteilnehmer zeigte den Hitlergruß."
  • Freitag, 6. Mai: "Mit ca. 800 Teilnehmern überrannte der Aufzug eine Polizeikette im Bereich des Hauptverkehrsknotens Ehinger Tor. Anweisungen der Polizeibeamten wurden hierbei völlig ignoriert. Es kam zu einer Gefährdung des Verkehrs auf den Hauptverkehrsstraßen."

Eine Liste mit Vorfällen, wo sich "Spaziergänger" über Vorgaben hinweggesetzt haben, könnte vermutlich noch weiter verlängert werden. Das machen sie eigentlich, seitdem es sie gibt: Sie waren noch nie angemeldet und ihre Routen sind schon immer unklar und unberechenbar wie gefährlich.

Warum also greift die Begründung, dass die öffentliche Sicherheit als gefährdet angesehen wird, erst jetzt, um eine härtere Gangart anzulegen? Warum zieht die Stadt jetzt die Reißleine - zu einem Zeitpunkt, wo die Zahl der Teilnehmenden und ihre öffentliche Wahrnehmung abgenommen hat? 300 bis 500 Menschen jetzt - anstatt Tausende im Winter? Aber spielt die neue Verfügung und die neue Öffentlichkeit der Bewegung nicht vielleicht noch in die Karten?

"Das ist abgewogen worden", sagt eine Sprecherin der Stadt. Und um einen derartigen Schritt rechtlich umsetzen zu können, sei eben auch erst eine entsprechende Dokumentierung der Vorfälle notwendig gewesen. Erst dann könne sie rechtlich wasserdicht sein. Und davon sei man jetzt überzeugt. Es würde bereits entsprechende Urteile von Gerichten - auch höherer Instanz - geben, die in ähnlichen Fällen entsprechend entschieden haben. Doch offenbar haben die "Spaziergänger" daran auch gar keine Zweifel. Beim für Ulm zuständigen Verwaltungsgericht in Sigmaringen ist bis Freitag, 14.30 Uhr, noch keine Klage gegen die neue Verfügung eingereicht worden.

Wie reagieren "Spaziergänger" auf die neue Verfügung in Ulm?

Und wie reagieren die "Spaziergänger"-Community sonst darauf? In den noch öffentlichen Telegram-Gruppen, in denen mutmaßliche in Ulm Teilnehmende darüber kommunizieren, wird zwar darüber diskutiert. Die meisten Debatten aber dürften inzwischen in privaten Gruppen ausgetragen werden. Wenngleich eine Nutzerin die Frustration mancher "Spaziergänger" in Kombination mit der neuen Verfügung gar als "Pulverfass" beschreibt. Sie äußert daher den Wunsch, mit dem OB "auf Augenhöhe" zu sprechen. "Ich bin mir sehr sicher, das dort gerade die emotional aufgeladeneren Spaziergänger sich zu Wort melden würden", schreibt sie.

Ob die nun gewählte Strategie der Stadt Ulm also aufgeht, ist fraglich und wird sich vermutlich erst am heutigen Freitagabend oder gar nach dem kommenden Montag zeigen. Es sei Anfang Juni versucht worden, mit einer bekannten Teilnehmerin Kontakt aufzunehmen und diese zu ermuntern, die "Spaziergänge" künftig anzumelden. Doch auch das habe nicht zum erwünschten Erfolg geführt, heißt es in der Verfügung. "Niemand hat eine Gelinggarantie", sagt die Stadtsprecherin. Niemand wisse, ob das jetzt der "Gamechanger" ist.

Die Ulmer Polizei äußert sich wie gewöhnlich eher schmallippig zur Angelegenheit. "Wir werden vor Ort sein und die Sache beobachten", so ein Sprecher. Man sei "ausreichend aufgestellt", doch mit wie vielen Kräften lässt er offen. "Wir lassen uns bei der Einsatztaktik nicht in die Karten schauen. Wir müssen lageorientiert entscheiden." Bei einem Eingreifen gelte weiterhin die "Verhältnismäßigkeit". Die Hoffnung sei aber, dass sich die Teilnehmenden an die Vorgaben halten würden. Die Ankündigung mit "robusten Kräften" die neue Verfügung durchsetzen zu wollen, lässt aber darauf schließen, dass in Ulm und vermutlich auch in Neu-Ulm heute Abend wieder vergleichsweise mehr Polizei zu sehen sein wird.

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