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Foto: Marcus Merk (Symbolbild)
Foto: Marcus Merk (Symbolbild)

Auch im Josefsheim Reitenbuch wurden früher viele Kinder missbraucht und geschlagen.

Landkreis Augsburg
21.01.2022

Missbrauchsskandal: Pfarrer aus dem Landkreis sind „traurig und wütend“

Von Philipp Kinne, Angela David

Plus Im Missbrauchsskandal gerät auch der frühere Papst ins Visier. Geistliche erwarten mehr Kirchenaustritte. Auch im Landkreis Augsburg gibt es viele Opfer, die auf Entschädigung hoffen.

Das Vertrauen in die Institution Kirche hat er längst verloren. Zu viel Leid, zu viel Gewalt, zu lange wurde geschwiegen. Der 69-Jährige aus dem westlichen Landkreis ist eines von vielen Missbrauchsopfern, die im Kinderheim in Reitenbuch aufwuchsen. Er möchte anonym bleiben. Doch zu dem, was ihm angetan wurde, will er nicht mehr schweigen. Zwischen 1950 und 2004 kam es im Josefsheim in Reitenbuch und im Marienheim Baschenegg im Landkreis immer wieder zu Übergriffen. Kinder wurden körperlich und sexuell missbraucht. Auch der 69-Jährige. Das geht aus Unterlagen hervor, die unserer Redaktion vorliegen.

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Sein Fall wurde von einer unabhängigen Missbrauchskommission inzwischen aufgearbeitet. Es sind schreckliche Szenen seiner Kindheit, die den 69-Jährigen bis heute nicht loslassen. Etliche Male wurde er von einem Priester sexuell missbraucht. Immer wieder gab es Gewalt durch Klosterschwestern, die damals die beiden Heime leiteten. Der 69-Jährige berichtet auch von Erniedrigung und psychischer Gewalt. Die Verantwortlichen leben nicht mehr, doch das Leid begleitet den Mann bis heute. Ein Arzt diagnostizierte ihm Schlafstörungen und Depression. Jahrelang wurden diese Vorfälle in den Mantel des Schweigens gehüllt. In den vergangenen Jahren kamen sie – neben vielen anderen – ans Licht. Nun geriet sogar der frühere Papst Benedikt XVI. ins Visier: Ein Gutachten lastet ihm Fehlverhalten im Umgang mit vier Fällen von sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof an.

Missbrauch in der Kirche: „Schlag ins Gesicht aller Betroffenen“

In den Pfarreien im Landkreis Augsburg ist das Entsetzen über die neuesten Erkenntnisse im Missbrauchs-Skandal groß. Dekan Thomas Pfefferer in Violau ist „traurig und auch wütend“. Besonders die Tatsache, dass Kardinal Marx bei der Präsentation des Gutachtens zu den Missbrauchsfällen am Donnerstag nicht anwesend war, sei „ein weiterer Schlag ins Gesicht aller Betroffenen, die über Jahrzehnte bis heute physisch und psychisch leiden“, so Pfefferer. Traurig sei er darüber, dass all das Gute, dass so viele Seelsorger vor Ort haben wachsen lassen, das ganze Vertrauen, nun „von oben her“ wieder kaputt gemacht werde. Wer Fehler mache – und das täten alle Menschen – müsse die Verantwortung dafür übernehmen und sich entschuldigen, nicht jahrelang aussitzen und Ausflüchte suchen, kritisiert Pfefferer. Das Ausmaß der Missbrauchsfälle und der Vertuschung sowie das regelrechte Netzwerk, das dazu nötig war, schockiert den Dekan zutiefst. „Jeder, der darüber etwas gewusst und nichts unternommen hat, hat sich schuldig gemacht und muss seinen Hut nehmen“, findet er.

Pfefferer bezweifelt, dass das Vertrauen in die Institution Kirche wieder hergestellt werden kann. „Jetzt fliegt uns der Laden um die Ohren.“ Grund für ihn, der Kirche den Rücken zu kehren, sei das aber nicht. Pfefferer, der heuer 50 Jahre alt wird, wurde erst spät, vor etwa 20 Jahren, katholischer Priester. Zuvor war er Orgelbauer. „Aber hinzuschmeißen wäre für mich undenkbar, das ist für mich ja kein Job, sondern eine Berufung.“ Er wolle zumindest in seinem Wirkungskreis ein Vorbild sein, Gutes tun und dazu beitragen, „dass so etwas nie mehr vorkommt“.

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Foto: Sammlung Pfefferer
Foto: Sammlung Pfefferer

Dekan Thomas Pfefferer.

Pfarrer über Missbrauchsskandal: „Enorme Erschütterung des Vertrauens“

Auch Pfarrer Markus Dörre von der Pfarreiengemeinschaft Gersthofen ist klar, dass die aktuellen Entwicklungen im Missbrauchsskandal natürlich noch einmal eine „enorme Erschütterung des Vertrauens in die katholische Kirche bedeutet“, denn jetzt sind Fakten ans Licht gekommen, die zwar nicht von Neuem, „aber immer wieder schockieren“, so Pfarrer Dörre. Das werde sich mit Sicherheit auch wieder in Kirchenaustritten niederschlagen. Dörre stellt fest, dass jetzt endlich eine Aufarbeitung begonnen hat und die Kirche versucht, „aus ihren Automatismen nach dem Motto ‚Was ist sein darf, ist auch nicht‘ rauszukommen“. Eine Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit könne nur durch eine weitere ehrliche Aufarbeitung gelingen, so Pfarrer Dörre.

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„Doch die Kirche ist ein sehr schwerfälliger Apparat“, sagt Pfarrer Karl Freihalter aus Hainhofen. Er ist seit 55 Jahren in der katholischen Kirche tätig und fordert seit längerer Zeit eine Veränderung im System. Die Missbrauchsfälle belasten seine Arbeit und seine Versuche, die schönen Gestaltungsmöglichkeiten der Kirche für viele Stationen des Lebens. „Ich persönlich finde das sehr schwierig, was da passiert.“ Als „üble Verleumdung“ bezeichnet es Freihalter, wenn gesagt werde, das Thema Missbrauch werde für das Ziel der Erneuerung der Kirche „missbraucht“, sprich instrumentalisiert. Den Hainhofener Pfarrer stört es auch, wenn quasi als Rechtfertigung gesagt werde, dass Missbrauch auch in anderen Institutionen oder Vereinen vorkomme. „Das hilft doch nichts, wenn man sagt, dass sowas auch woanders passiert.“

„Ich musste erstmal an die frische Luft, als ich davon gehört habe“, sagt Dekan Thomas Rauch vom Dekanat Schwabmünchen. „Es ist erschütternd und bitter.“ Beim abendlichen Spaziergang habe er am Kreuz gestanden und sich gefragt, wie es so weit kommen konnte. Im Gottesdienst am Sonntag will Rauch an die Missbrauchsopfer und deren Leid erinnern und um eine Erneuerung der Kirche beten. Auch wolle er die Gläubigen daran erinnern, sich gerade in dieser schweren Zeit die Freude am Glauben nicht nehmen zu lassen.

Man dürfe nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren, sondern müsse sich den Tatsachen stellen und die Vorwürfe auf breiter Ebene aufarbeiten. Die Reaktion des emeritierten Papstes Benedikt XVI könne er nicht nachvollziehen. Dankbar sei er hingegen für den Weg, den der Augsburger Bischof Bertram Meier gewählt hatte. Als erster deutscher katholischer Bischof hatte er vergangene Woche vor laufender Kamera mit zwei Missbrauchsopfern gesprochen. „Es kommen einem die Tränen, aber man darf diese Taten nicht verdrängen“, sagt Rauch.

Zwischen 5000 und 20.000 Euro Entschädigung für Opfer der Kirche

Hilfe und Unterstützung für die Opfer sei nun das dringlichste Gebot für die katholische Kirche, sagt Dekan Thomas Pfefferer. „Das ist das Mindeste.“ Nach den Missbrauchsfällen in Reitenbuch und Baschenegg, wurden mittlerweile einige Opfer finanziell entschädigt. Bischof Bertram Meier sprach nach einem jüngst vorgestellten Abschlussbericht zu den Fällen in den Heimen persönlich mit einigen der Opfern. Deren Schilderungen hätten ihn erschüttert, sagte er. Das Bistum zahlte mittlerweile an 18 der Betroffenen Anerkennungsleistungen in Höhe von insgesamt 192.000 Euro. Die Beträge für die einzelnen Opfer liegen laut Bistum zwischen 5000 und 20.000 Euro. Hinzu kommen Zahlungen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen der Deutschen Bischofskonferenz. Eine zentrale Stelle der Kirche, an die sich Missbrauchsopfer wenden können.

Auch das mittlerweile 69-jährige Missbrauchsopfer aus dem westlichen Landkreis bekam Geld von der Kirche überwiesen. Insgesamt über 20.000 Euro. „Aber nur auf Betteln“, wie er sagt. Aus seiner Sicht reiche die Summe nicht aus, erklärt das Opfer. Wegen der psychischen Folgen des Missbrauchs habe er sich im Arbeitsleben schwer getan. Eine Zeit lang habe er als Gärtner rund Hausmeister gearbeitet. Nun bekomme er nur eine kleine Rente, die kaum zum Leben reicht. „Dabei hat die Kirche doch genug Geld“, meint der 69-Jährige. Er will sich nicht zufrieden geben. (mit kar)

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