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Foto: Felipe Dana, dpa
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Feuerwehrleute löschen ein Wohnhaus in Kiew, das von der russischen Armee beschossen wurde.

Krieg in der Ukraine
17.03.2022

Deutschland und die Ukraine: Eine Freundschaft unter erschwerten Bedingungen

Von Karl Doemens, Margit Hufnagel, Ulrich Krökel, Katrin Pribyl

Die Deutschen sind beeindruckt von der eigenen "Zeitenwende", die ukrainische Regierung macht Berlin schwere Vorwürfe. Auch andere Länder sehen Kanzler Scholz in der Rolle des Bremsers.

Die blau-gelbe Flagge weht an den Rathäusern im Land. Auf den Bahnhöfen von Berlin bis München stehen Freiwillige, die den ankommenden Flüchtlingen aus der Ukraine ein Bett und vielleicht auch das Gefühl von Sicherheit anbieten. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer „Zeitenwende“, weil die Bundesregierung in ihrer Sicherheitspolitik nicht weniger als eine 180-Grad-Wende einläutet. Russlands Krieg gegen die Ukraine hinterlässt auch hierzulande tiefe Spuren. Doch während Deutschland immer noch ganz schwindelig ist von der Geschwindigkeit, in der alte Glaubenssätze über Bord geworfen werden, schildern Dmytro Kuleba und Andrij Melnyk eine ganz andere Sicht auf die Dinge.

Der eine ist ukrainischer Außenminister, der andere der ukrainische Botschafter in Berlin, sie sind regelmäßig in die deutschen TV-Talkshows zugeschaltet, die Floskeln der Diplomatie haben sie längst abgestreift. Der Gegensatz könnte kaum größer sein: Deutschland staunt über sich selbst, die vom Krieg gebeutelte ukrainische Regierung und deren Vertreter hingegen üben heftige Kritik. Der Beziehungsstatus zwischen Berlin und Kiew – er ist kompliziert.

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Foto: Paul Zinken, dpa
Foto: Paul Zinken, dpa

Tausende Menschen demonstrierten in Berlin unter dem Motto "Stoppt den Krieg! Frieden und Solidarität für die Menschen in der Ukraine".

Die Worte, die die ukrainische Seite wählt, sind drastisch, die Verzweiflung mit Händen zu greifen, für die Bedenken einer Industrienation gibt es wenig Verständnis. „Unsere Kinder werden getötet, unsere Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Das heißt, Sie sollten zugeben, dass Sie einen Fehler gemacht haben und diesen Fehler korrigieren", sagt Kuleba dieser Tage in der ARD-Talkshow „Anne Will“. Hinter ihm die Wand eines Bunkers. Mit „Fehler“ meint der Minister die deutsche Russlandpolitik, den Umgang der Bundesregierung mit Wladimir Putin.

Für Kuleba ist Deutschland ein Bremser im Ringen mit dem Kreml. Flugverbotszone, sofortiger EU-Beitritt, die Lieferung von Kampfflugzeugen, ein Lieferstopp für russische Energie. „Das russische Gas riecht nach Blut“, sagt er eindringlich. Warum das nicht boykottiert werde? Dazu höre er von anderen Staaten immer nur, „wir machen das wegen Deutschland nicht“. Nicht viel weniger drastisch sind die Worte, die Botschafter Melnyk in Richtung Kanzleramt schleudert: Der deutsche Bundeskanzler sei für ihn ein Mann, dem es an Entschlossenheit im Freiheitskampf fehle. „Mein Präsident hat mit Scholz telefoniert – als ob man mit einer Wand gesprochen hätte.“

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Foto: dpa
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Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisiert Deutschland scharf.

Deutschland gehört zu den größten Geldgebern für die Ukraine

Die einen fühlen sich zu wenig unterstützt, die anderen missverstanden. Dabei war das Band in den vergangenen Jahren eng. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel war es, die bei den stundenlangen Verhandlungen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem ukrainischen Kollegen Petro Poroschenko vermittelte, um einen Plan für den umkämpften Donbass herbeizuführen. Deutschland gehört zu den größten Geldgebern für die Ukraine. Seit 2014 investierte die Bundesregierung rund zwei Milliarden Euro, um das Land zu stabilisieren. Allein aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit hat Deutschland die Ukraine mit mehr als einer Milliarde Euro unterstützt. Der Bund ist überdies mit bislang 11,5 Millionen Euro auch größter Einzahler in den 2019 von den Vereinten Nationen eingerichteten humanitären Länderfonds Ukraine.

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Doch in Kriegszeiten sieht die Bilanz anders aus. Die USA haben der Ukraine innerhalb eines Jahres Waffen und Ausrüstung im Wert von 1,2 Milliarden Dollar (1,09 Milliarden Euro) geliefert. Staaten wie Estland, Litauen und Slowenien machen sich für eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU stark. Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien wagen sogar die Reise nach Kiew. Selbst die Briten, die nicht mehr zur EU gehören, beteiligen sich mit umfangreichen militärischen Lieferungen an der Unterstützungsmission. Mit zunehmender Dauer des russischen Kriegs wachsen daher die Spannungen nicht nur zwischen Deutschland und der Ukraine, sondern auch zwischen den EU-Staaten.

SPD-Außenpolitiker Roth für weitere Waffenlieferungen an Kiew

Zuletzt offenbarten sich die Differenzen beim informellen EU-Gipfel in Versailles, als sich Olaf Scholz abermals gegen ein Embargo für russische Energie sperrte. Die Sanktionen, so betont er regelmäßig, sollen den Kreml treffen und möglichst geringe Auswirkungen auf die europäischen Länder haben. Finnland oder Lettland drängen dagegen auf einen Importstopp. Ist es wirklich vor allem Deutschland, das im Kreis der Gemeinschaft auf der Bremse steht bezüglich noch schärferer Sanktionen? Während Scholz für seinen Anti-Embargo-Kurs offene Unterstützung etwa aus Österreich erhält, befürworten hinter den Kulissen auch einige andere Mitgliedstaaten die Linie aus Berlin und „verstecken sich hinter dem breiten Rücken Deutschlands“, wie es ein EU-Diplomat nennt.

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Foto: Martin Schutt, dpa
Foto: Martin Schutt, dpa

Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, spricht sich für weitere Hilfen für die Ukraine aus.

In Berlin bemüht man sich derweil, die Zweifel an der eigenen Verlässlichkeit auszuräumen – und vor allem gegenüber der Ukraine mit einem konzilianten Ton aufzutreten. Die Regierung weiß, dass die Ukrainer um nicht weniger als ihr Leben kämpfen. „Die zunehmende Brutalität der Angriffe und die Ausdehnung des Kriegsgeschehens auf den Westen des Landes lassen befürchten, dass der Ukraine das Schlimmste erst noch bevorsteht“, sagt Michael Roth (SPD), Chef des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. „Die Forderungen der Ukraine, weitere Schritte gegen den Aggressor Russland zu ergreifen, sind daher völlig legitim.“ Deswegen dürfe Deutschland jetzt auch nicht nachlassen mit der Unterstützung, „auch und vor allem durch weitere Waffenlieferungen“, so Roth. „Für die Menschen in der Ukraine, die sich so tapfer der russischen Übermacht entgegenstellen, ist diese Unterstützung überlebenswichtig.“ Die internationale Gemeinschaft dürfe sich nicht von Putin einschüchtern lassen. Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin seien nur dann von Erfolg gekrönt, wenn sie vonseiten des Westens mit Härte, Wehrhaftigkeit und Selbstbewusstsein geführt würden. „Es hilft aber nun nichts, in eine öffentliche Debatte darüber einzutreten, welche konkreten weiteren Schritte wir ergreifen werden und welche nicht. Putin muss darüber im Unklaren gelassen werden, was jetzt folgt“, sagt Roth unserer Redaktion. „Das hat im Übrigen auch bei den weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gewirkt.“

Estland versucht, auf Berlin einzuwirken

Doch nicht nur in der Ukraine wächst die Nervosität. Kaja Kallas versucht es mit einer einfachen Rechnung. „Von Kiew nach Berlin sind es 1300 Kilometer, ebenso von Kiew nach Tallinn“, erklärt die estnische Ministerpräsidentin. Deutschland sei folglich „genauso nah dran“ am Krieg in der Ukraine wie die baltischen Staaten. Und deshalb sollte die Bundesregierung auch dringend mehr tun, um Putin abzuschrecken. „Ein Diktator versteht nur Stärke“, sagt Kallas und spricht damit den meisten Menschen im Osten Europas aus dem Herzen.

Ob im Baltikum, in Polen, der Slowakei oder Rumänien: Überall sind die politischen Führungen zwar erleichtert über die „Zeitenwende“ in Deutschland. Sie begrüßen die sichtbare Abkehr von Russland, die angekündigte Stärkung der Bundeswehr, die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionspolitik. Aber all das ist den Regierungen im Osten deutlich zu wenig. Ein deutscher Boykott russischer Energielieferungen wäre das Mindeste. Gern dürfte es auch ein stärkeres militärisches Engagement in der Ukraine sein. So forderte das estnische Parlament am Montag in einer Resolution die Einrichtung einer von der Nato garantierten Flugverbotszone über der Ukraine. Was die Verantwortlichen in Berlin als möglichen Schritt Richtung Weltkrieg werten, gilt in Tallinn als dringend nötige Vorwärtsverteidigung.

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Foto: Stephen B. Morton, dpa
Foto: Stephen B. Morton, dpa

Soldaten der US-Armee fliegen für einen Einsatz nach Europa.

In Washington hingegen wird die Bundesregierung derzeit mit ungewöhnlichem Wohlwollen betrachtet. Lange galt Berlin wegen des Nord Stream 2-Projekts, das von Republikanern und Demokraten gleichermaßen bekämpft wurde, und seiner vergleichsweise geringen Verteidigungsausgaben als Sorgenkind und Bedenkenträger der Allianz. Umso überraschter wurden der Pipeline-Stopp und die Zusage von Waffenlieferungen an die Ukraine in Washington als Kehrtwende gefeiert.

Als Vize-Bundeskanzler Robert Habeck vor zwei Wochen zu seinem Antrittsbesuch in die amerikanische Hauptstadt kam, standen ihm die Türen aller wichtigen Ministerbüros offen. „Ich bin mit kameradschaftlich offenen Armen empfangen worden“, berichtete der Grünen-Politiker beeindruckt: „Die Veränderungen in der Politik führen dazu, dass hier das Vertrauen, aber auch die Erwartungen außergewöhnlich groß sind.“

So sehen die USA das deutsche Engagement

Ob die Bundesregierung freilich die hochgesteckten Erwartungen erfüllen wird, muss sich zeigen. Bei der Verhängung des Einfuhrverbots für russisches Öl äußerte Präsident Joe Biden ausdrücklich Verständnis für die europäischen Verbündeten, die stärker von Energieträgern aus dem Osten abhängig sind und deshalb kein Embargo verhängen könnten. Auch das deutsche Nein zur Lieferung der MiG-29-Kampfjets wurde von der US-Regierung angesichts massiver Bedenken der eigenen Geheimdienste nicht kritisiert.

Mit der Intensivierung des Kriegs dürfte aber der Druck auf die Biden-Administration zunehmen, robustere Schritte zum Schutz der Zivilbevölkerung zu unternehmen. Eine generelle Flugverbotszone über der Ukraine lehnt der Präsident bislang wegen der Gefahr einer Einbeziehung der Nato in die Kampfhandlungen ab. Jedoch fordern auch Demokraten in Washington immer lauter, der Westen müsse zumindest Fluchtkorridore aus der Luft absichern. Sollte Russland Raketen auch auf die andere Seite der Grenze zu Polen abfeuern oder in der Ukraine biologische oder chemische Waffen einsetzen, würde der Konflikt dramatisch eskalieren. Dann dürfte schnell auch der Punkt kommen, an dem die Belastbarkeit der neuen deutschen Russlandpolitik von den Amerikanern auf den Prüfstand gestellt wird.

Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.

Augsburg-Podcast

Krieg in der Ukraine: Wie groß ist die Angst – und wie hilfst du?

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