Wenn Schüler für den Unterricht in die Karibik segeln
Lehrerin Anja Zieger hat mit 34 Schülern sechseinhalb Monate auf einem Schiff verbracht und ist in die Karibik geschippert. Statt Sonnenbaden stand aber anderes auf dem Programm.
Gerade will Anja Zieger mit dem Biologie-Unterricht beginnen, da klatscht eine große Welle gegen das Schiff. Zieger verliert das Gleichgewicht und landet vor ihren Schülern auf dem Hosenboden. Die Arbeitsblätter, die die Lehrerin gerade austeilen wollte, fliegen durch die Luft und landen im Atlantik. Der Unterricht auf dem Segelschoner Thor Heyerdahl war nicht immer einfach.
Gemeinsam mit 34 Zehntklässlern, drei weiteren Lehrern und 16 Seeleuten verbrachte die Dillingerin Zieger sechseinhalb Monate an Bord des 50 Meter langen Dreimasters. Im Rahmen des Projektes „Klassenzimmer unter Segeln“ (Kus) unterrichtete sie dort Chemie und Biologie. Seit 2008 organisiert die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg den Segeltörn über den Atlantik. Projektleiterin Ruth Merk erklärt: „Ziel von Kus ist es, junge Menschen in ihrer Selbstständigkeit, ihrer Eigeninitiative und ihrem Verantwortungsgefühl zu stärken.“ Die Jugendlichen müssen an Bord mitarbeiten. Sie kochen, putzen und schieben Wachdienst. „Jeder hat seinen Platz und muss seine Aufgaben erfüllen, damit die Reise funktioniert“, sagt Merk.
Schüler lernen die Navigation an Bord des Segelschiffes
Außerdem bekommen die Schüler von der Crew eine nautische Ausbildung und lernen den Segelschoner zu navigieren. Neben Wetterkunde, astronomischer Navigation und Seerecht stehen aber eben auch klassische Fächer wie Deutsch, Mathematik oder Chemie auf dem Stundenplan. Das Besondere am Unterricht auf der Thor ist, dass die Lehrer den Stoff anhand der Umgebung vermittelten. In Biologie behandelte Zieger mit ihren Schülern die Meeressäuger, die man teilweise vom Schiff aus beobachten konnte. Auf einem Landgang auf Teneriffa lernte die Klasse bei einer Bergwanderung die verschiedenen Vegetationszonen kennen. „Der Unterricht ist anschaulicher und spannender, wenn die Schüler direkt von den Themen betroffen sind“, sagt Zieger. Deshalb hält sie diese Art des Lernens für nachhaltiger.
Das bayerische Kultusministerium hat die Teilnahme mit einem Schulbesuch im Ausland gleichgesetzt. Der Unterrichtsstoff orientiert sich am bayerischen Lehrplan, denn die Schüler sollen nach den sechseinhalb Monaten ihre reguläre Schullaufbahn problemlos fortsetzen können. Allerdings werden nicht alle Fächer an Bord behandelt. Französisch oder Latein müssen die Schüler in Freiarbeit eigenständig lernen. Bisher habe noch kein Teilnehmer nach seiner Rückkehr die zehnte Klasse wiederholen müssen, sagt Kus-Sprecherin Katharina Lempe. Das Projekt bekommt keine staatlichen Zuschüsse, sondern finanziert sich durch die Beiträge der Teilnehmer. 2770 Euro sind für jeden Schüler pro Monat fällig. Die gesamte Reise kostet somit über 15000 Euro. Ein Förderverein vergibt allerdings Stipendien. Dadurch soll die Reise unabhängig vom Geldbeutel der Eltern möglich sein.
Bei der Auswahl der Teilnehmer achten die Verantwortlichen vor allem auf die Zeugnisse. Lempe erklärt: „Uns ist ein hohes Maß an Selbstständigkeit beim Lernen wichtig. Ein Zeichen dafür sind meistens gute Noten.“ Daneben seien Offenheit und Teamfähigkeit wichtig. Von den 180 bis 200 Bewerbern jährlich werden etwa 50 zu einem Probetörn eingeladen. „Wir wollen ihre Persönlichkeit kennenlernen und sehen, wie sie sich in der Gruppe verhalten“, sagt Lempe. Auch die Lehrer werden sorgsam ausgesucht. Zieger hatte sich nach Ende ihres Referendariats in Radolfzell am Bodensee für das „segelnde Klassenzimmer“ beworben. Sie konnte mit ihren Segelkenntnissen und einer erlebnispädagogischen Ausbildung punkten.
Freundschaftliches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
Das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern an Bord ist mit dem normalen Schulalltag nicht zu vergleichen. „Wir waren sechseinhalb Monate auf engsten Raum zusammen. Im Schiffsbetrieb waren alle Besatzungsmitglieder – mit Ausnahme des Kapitäns – auf einer Ebene. Wir haben unsere Freizeit gemeinsam verbracht und haben uns geduzt. Eigentlich waren wir wie gute Freunde“, sagt Zieger. So konnte die junge Lehrerin auch eine andere Seite an den Jugendlichen kennenlernen. „In der Schule sieht man nur ihre akademischen Leistungen. Andere Talente lernt man kaum kennen.“ Für den Unterricht war das freundschaftliche Verhältnis kein Problem. „Das hat funktioniert. Die Schüler haben gut mitgezogen.“
Die Reise habe sich für alle gelohnt. Ihre Schützlinge seien viel selbstständiger geworden, findet Zieger. Auch für sich zieht sie ein positives Fazit: „Es war zwar sehr anstrengend, weil man rund um die Uhr Ansprechpartner für die Schüler war. Trotzdem war es ein einmaliges Erlebnis.“ Als wichtigste Erkenntnis nimmt die 30-Jährige Folgendes mit: „Du kannst alles noch so gut durchplanen, es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren.“ Wer bei starkem Wind und hohen Wellengang unterrichtet hat, den kann im Klassenzimmer nichts mehr erschüttern.
Weitere Informationen zum Klassenzimmer unter Segeln (Kus).
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