Die Kunstsprechstunde in der Hochfeld-Arena
Der Andrang ist gewaltig. Die Augsburger bringen ihre Schätze zu unserem Schreibtisch und lassen sie vom Auktionator Georg Rehm begutachten. Nicht alles, was glänzt, ist Gold.
Menschen, die Schulter an Schulter im Kreis sitzen, kein freier Stuhl, eine fast andächtige Konzentration – und in die Mitte, dort wo Georg Rehm steht wie ein Zirkusdirektor in der Arena, werden alle paar Minuten neue Objekte gereicht, werden neue Geschichten erzählt.
Dieser Dienstagnachmittag ist ein ganz besonderer in unserer Sommerserie „Kultur aus der Hochfeldstraße“. Der Andrang zur Kunstsprechstunde unter freiem Himmel ist groß. Die ersten Leute standen schon zwei Stunden, bevor es losgeht, vor der Kerschensteiner Schule. Und groß ist auch die Bandbreite der Objekte und Gegenstände, die die Besucher mitgebracht haben, damit sie Georg Rehm, Spezialist für Kunst und Antiquitäten, die er seit vielen Jahren in seinem traditionsreichen Auktionshaus versteigert, begutachtet.
In der Hochfeld-Arena zu sehen sind Schmuckstücke, alte Bierkrüge, bemaltes Porzellan, alte Bücher, Drucke, Ölgemälde, Urkunden, alte Fotoapparate, Uhren, Fotografien, Dolche, Spielzeug. Familienschätze, Fundstücke, Erbstücke, Liebhabereien. Alle, die dabei sind an diesem schönen Sommertag im Hochfeld, werfen gleichsam einen Blick in eine große Vitrine, deren Inhalt Georg Rehm deutet, erklärt, untersucht, bewundert, bewertet – und entzaubert, auch das mehr als einmal. Manche heimlich gehegte Hoffnung entfleucht hier und heute. Das Publikum hört und lernt an unserem mobilen Schreibtisch eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass nicht alles, was alt ist, auch wertvoll ist. Dass persönlicher Wert etwas anderes ist als ein Verkaufs- und Marktwert. Dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Dass alte Puppen und Reservistenkrüge schon einmal viel gefragter waren als heute. Dass manches vermeintliche Original eine Kopie ist, manches Gemälde nur ein Druck – und der Rahmen gelegentlich wertvoller und interessanter ist als das Bild. Dass der Holzwurm kein Schreckgespenst sein muss.
Georg Rehm ist kein Schönredner. Das erwarten die Leute auch von ihm, wie sich zeigt. Auch wer gerade erfahren hat, dass das Gemälde, das „der Opa aus dem Krieg“ mitgebracht hat, alles mögliche sein kann, „bloß Kunst hat der Opa nicht mitgebracht“, trägt es mit Fassung. Wer sich, so wie eine Frau, die Diverses aus einer Aldi-Tragetasche zieht, dem verständnisvollen Antiquitäten-Zirkusdirektor Rehm in der Hochfeld-Arena mit den Worten nähert: „Wahrscheinlich ist es nix wert, aber ich dachte, ich lass’ es mal anschauen“, macht jedenfalls nichts falsch und bereitet sich schonend darauf vor, Recht zu behalten …
Es gibt überraschende Wendungen
Ein unbekannter Picasso vom Dachboden kommt an diesem Dienstag ebenso wenig auf unserem Schreibtisch wie Tiffany-Juwelen oder sonst ein unverhoffter Volltreffer von fünfstelligem Wert. Aber spannende Geschichten, kuriose Objekte, interessante Dinge, überraschende Wendungen: Davon gibt es in Hülle und Fülle. Über zwei Stunden, ohne Pause und ohne kleinstes Anzeichen von nachlassender Schau- und Erklärfreude, arbeiten Georg Rehm und sein Publikum Dutzende Teile ab. Da ist die Elfenbeinbrosche aus dem Odenwald (30 bis 70 Euro), eine alte Briefwaage (Flohmarkt …), zu einem Armband verarbeitete Münzen, eine Heilige Schrift (eher nichts wert) aus dem 19. Jahrhundert, eine Porzellanfigur (100 Euro, wenn sie ganz wäre …), eine Märklin-Modellbahnlok („die bringt sicher 200 Euro“), ein Hausaltar mit Zinnfigurenmadonna („nur von persönlichem Wert“), ein Püppchen, das schon vier Umzüge überstanden hat („hübsch, aber ein Fingerle fehlt …“).
Die Neugier darauf, was die Leut’ so daheim haben, wird an diesem Dienstag im Hochfeld ordentlich befriedigt. Aber Georg Rehm erläutert auch viel Wissenswertes und erweist sich nicht nur als vielseitig bewanderter Fachmann, sondern geizt auch nicht mit Unterhaltungswert. Einer Frau, die einen Seidenteppich ausrollt und entschuldigend erklärt, die Brücke stamme aus dem Haushalt einer Raucherin, sagt der Auktionator: „Rauchen macht dem Teppich nix, ein Hund wäre schlimmer.“ Übrigens: der sehr schöne, feine Teppich, eine halbe Million Knoten pro Quadratmeter, sei sicher 800 bis 1200 Euro wert. Dann, meint die Frau, war es wohl ein Fehler, dass sie ein zweites Stück aus nämlicher Haushaltsauflösung damals weggeworfen habe …
Während die Sonne weiterwandert über der Kerschensteiner Schule und Georg Rehm gerade in einem Band mit gebundenen Zeitungen des um die Jahrhundertwende erschienen Augsburger Sonntagsblatts blättert, reißt die Prozession der Begutachtungswilligen nicht ab. Aus allen Richtungen kommen sie – mit riesigen Ölbildern unter Betttüchern, mit Tellern, die in Handtücher eingewickelt sind, sogar mit einem großen grauen Holzchristus ohne Kreuz, dessen Waden vom Holzwurm durchlöchert sind …
16.10 Uhr – wir sind schon fast 45 Minuten über die Zeit. Ein riesiges Ölgemälde von Julius Noerr erregt Rehms Aufmerksamkeit („sehr feine Qualität, bis 2500 Euro wurden für seine Bilder schon gezahlt“), als sich fünf Meter entfernt ein junger Mann in Jeans und farbverklecksten Schuhen eine Maske übers Gesicht zieht und die Spraydose vor einer großen Leinwand ansetzt. „Ich folge der Eingebung des Moments“, sagt Matthias Weißenböck, als er die Maske abnimmt. Der 23-Jährige, der sich als Graffiti-Künstler „Börg“ nennt, gestaltet vor den Augen unserer Besucher zwei große Leinwände. Zum Einsatz kommen verschiedene Techniken, die in der Street Art gebräuchlich sind. Neben Spraydosen, Kreppband zum Abkleben und Schablonen auch dicke Marker-Stifte. Börg hat ins Zentrum seiner ersten Leinwand eine alte Dampflokomotive gesetzt – das passt ins Hochfeld, das von der Eisenbahn geprägt ist. Auf Zuruf nennen die Hochfelder auch andere Motive, die sie sich im Werk vorstellen könnten. Den Turm der Kirche Sankt Canisius zum Beispiel. Oder: „Mehr Rot“.
Matthias Weißenböck, der Kommunikations-Design in Augsburg studiert, nimmt alle Anregungen auf. Ihm gefällt die Atmosphäre, wie er sagt. Nach einer Stunde ist das Bild schon sehr weit – da ist die Lokomotive, da sind scharfkantige geometrische Formen und Linien, die an den russischen Konstruktivismus angelehnt sind – aber es gibt auch Farbrinnsale und kaligrafische Ornamente zu sehen. „Ich schnappe mir aus allen Zeiten, Stilen und kulturellen Kontexten etwas und mixe das zu etwas Neuem“, sagt der 23-Jährige, der zum Augsburger Graffiti-Kollektiv der „Bunten“ gehört. Weißenböck, der für uns im Hochfeld auch am nächsten Dienstag an seinen Leinwänden weiterarbeitet, lobt die „absolute Freiheit“, die die Street Art gewähre. „Motiv, Untergrund, Größe, Stil: du kannst alles machen.“ Die Damen, die Börg interessiert zusehen und von denen nicht wenige seine Großmütter sein könnten, sind erstaunt, dass es auch solche Spraykunstwerke gibt – wo doch oft so ein Geschmiere an den Hauswänden …
Das besser zu erklären und Unterschiede deutlich zu machen, ist auch Weißenböck ein Anliegen. Giftig seien die Dämpfe aus seinen Spraydosen zwar nicht – doch bei regelmäßiger Arbeit empfehle sich doch die Maske, sagt er, bevor die Lokomotive weiße Schlagschatten aus der Dose bekommt. Die Sphinx-Figuren in Stein, die vor dem Zeppelinhof im Hochfeld stehen, haben Börgs Interesse geweckt. Es könnte sein, dass sie eine Rolle spielen nächsten Dienstag, ab 14 Uhr. Da wird er wieder bei uns malen. „Bin gespannt“, sagt eine Rentnerin.
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