Rätselhaftes Guatemala: Wo das Wasser verschwindet
Das mittelamerikanische Land bietet spektakuläre Naturschauspiele und den höchsten Maya-Tempel der Welt – und doch gilt es unter Reisenden noch immer als Geheimtipp.
Zwei, vielleicht drei Zentimeter Spielraum hat der Kleinbus mit den acht Touristen an Bord. Die Reifen drehen sich auf der Schotterpiste langsam nach vorne, während kleine Steinchen links den Abhang hinunterrutschen. Einige hundert Meter tief geht es nach unten. Doch Fahrer Juan bleibt ruhig, immerhin ist er diesen Weg schon rund hundert Mal gefahren, erzählt er. In Schrittgeschwindigkeit schlängelt sich der Kleinbus die knapp zehn Kilometer lange Sackgasse hinab nach Lanquín. Dschungelüberwucherte Hügel umringen das 2000-Einwohner-Dorf mitten im Nirgendwo von Guatemala.
Hinein in Guatemalas beeindruckendstes Naturschauspiel
Lanquín und das dazugehörige Naturreservat stehen bei vielen Urlaubern ganz oben auf der Liste, obwohl die Anreise beschwerlich ist: Etwa zehn Stunden dauert die Busfahrt sowohl von den touristischen Sehenswürdigkeiten im Norden als auch im Süden des Landes. Danach geht es runter vom Kleinbus und auf die Ladefläche eines Pick-ups – und immer weiter in den Dschungel hinein. Nach einem Fußmarsch zwischen hoch aufgeschossenen Bäumen und vorbei an bewaffneten Soldaten an einem hölzernen Kassenhäuschen ist das Ziel erreicht: das beeindruckendste Naturschauspiel Guatemalas – Semuc Champey; was soviel bedeutet wie "dort, wo das Wasser verschwindet".
Durch das Naturschutzgebiet in einem engen Tal windet sich der Fluss Río Cahabón. Auf mehreren Stufen haben sich auf einer Länge von knapp 300 Metern sechs Becken gestaut, die mit kristallklarem Wasser gefüllt sind. Die bis zu drei Meter tiefen Pools schimmern je nach Wetter smaragdgrün bis karibisch-türkis. Kleine Wasserfälle fließen von einem Becken in das nächste, Urlauber genießen in den Pools bei 30 Grad Außentemperatur und hoher Luftfeuchtigkeit die Abkühlung. Die Becken werden aber nicht vom Rio Cahabón gespeist, sondern von Bergquellen. Der Fluss selbst verschwindet einige Meter vor den Pools in der Erde und tritt erst nach dem letzten wieder aus dem Boden.
Ein spektakuläres Bild, das für die beschwerliche Anreise entschädigt
Die Schönheit Semuc Champeys lässt sich vor allem aus der Vogelperspektive bewundern. Ein schmaler Pfad führt wenige hundert Meter auf einen Hügel, der Aufstieg dauert etwa eine Stunde. Immer wieder sitzen Frauen und kleine Kinder am Wegesrand und verkaufen Wasser, Cola, Schokolade oder Bananen.
Eigentlich herrscht für Fünf- bis Achtjährige in Guatemala Schulpflicht. Doch auf dem Land gelten andere Dinge als wichtig: "Hier geht niemand zur Schule, hier wird gearbeitet", sagt Fremdenführer Maynor. Kein Wunder, mehr als die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung, also etwa acht Millionen Menschen, lebt in Armut. Deswegen müssen auch die Kleinsten mit anpacken. Oben auf dem Hügel angekommen, wartet auf die Gruppe eine drei Quadratmeter kleine, wacklige Holzplattform – ein Albtraum für Leute mit Höhenangst. Von dieser geht der Blick ins Tal und auf Semuc Champey – ein spektakuläres Bild, das für die beschwerliche Anreise entschädigt. Trotz dieser beeindruckenden Aussichten gilt Guatemala als Geheimtipp. Etwa 1,5 Millionen Touristen besuchen jährlich das kleine Land in Mittelamerika. Zum Vergleich: Ins benachbarte Mexiko reisen in derselben Zeit etwa 23 Millionen Urlauber, um die Strände, Landschaft oder kulturellen Sehenswürdigkeiten zu genießen.
Nur wenige hundert Meter von der natürlichen Poollandschaft entfernt liegt eine weitere Sehenswürdigkeit Guatemalas – die K’anb’a-Höhle. Nur mit einer brennenden Kerze bewaffnet geht es in die größtenteils mit Wasser gefüllte Höhle. Mal ist es nur knietief, dann wieder so tief, dass man schwimmen muss – die Kerze darf dabei natürlich nicht ausgehen. Wer sich nicht gerade einarmig im Wasser fortbewegt, klettert entweder über Felsen, springt metertief in die Dunkelheit oder rutscht Wasserfälle hinunter. Knapp zwei Stunden dauert diese Reise hinab durch die Dunkelheit.
300 Kilometer weiter nördlich geht es in die entgegengesetzte Richtung – nach oben, und zwar weit nach oben. 65 Meter, um genau zu sein. So hoch ist die höchste touristisch erschlossene Pyramide in der Welt der Maya – Tempel IV: Er liegt in Tikal, einst die strahlende Stadt im Königreich der Mayas. Bis zu 100.000 Menschen sollen dort gelebt haben, bevor im 10. Jahrhundert der Untergang erfolgte.
Star-Wars-Fans kennen die Ruinen von Tikal gut
Die Gründe für den rasanten Niedergang sind noch heute nicht geklärt. Von dem antiken Wolkenkratzer hat man einen fantastischen Ausblick über den Regenwald, aus dem einige weitere Tempel Tikals herausragen. Star-Wars-Fans kennen die Aussicht – George Lucas wählte diese im vierten Teil seiner Saga als Filmmotiv für die Rebellenbasis.
Vormittags liegt oft dichter Nebel über dem Dschungel. Von irgendwoher schreit ein Brüllaffe, auf dem Boden kriechen hunderte Ameisen und einige schwarze Spinnen. Das 65 Quadratkilometer große Areal rund um Tikal im Norden Guatemalas beheimatet jedoch noch viel mehr Tiere. In den Wasserreservoiren leben Krokodile, Verkehrsschilder warnen vor Jaguaren, Schlangen, Nasenbären und Truthähnen. Andere Schilder in dem Weltkulturerbe weisen Besucher darauf hin, dass sie von Brüllaffen mit Kot beschmissen werden könnten. Also lieber ab und zu nach oben gucken – nicht nur wegen der stinkigen Wurfgeschosse. Sondern vor allem wegen der riesigen Tempel, die oft noch von tropischen Pflanzen bewachsen sind.
Herzstück der Maya-Stätte ist der Große Platz. Fremdenführer demonstrieren Besuchergruppen, warum Tikal übersetzt "Ort der Stimmen" heißt. Sie klatschen mitten auf dem Platz einmal in die Hände und von allen vier Seiten ertönt ein Echo – nacheinander. Umrahmt wird der Platz unter anderem von zwei Tempelpyramiden.
Auf den "nur" 47 Meter hohen Tempel des Großen Jaguars dürfen Besucher seit einigen Jahren nicht mehr hinauf – zu viele tödliche Stürze hat es gegeben. Nicht viel weniger eindrucksvoll ist der gegenüber stehende, 38 Meter hohe Tempel der Masken, der über eine seitlich am Bauwerk befestigte Treppe gefahrlos bestiegen werden kann. Hinter der Anordnung steckt eine Liebesgeschichte: Da die Türstürze jeweils das Gesicht des Königs Jasaw Chan K’awiil I im etwas größeren Tempel und das Gesicht seiner Ehefrau in dem etwas kleineren Tempel tragen, sieht sich das Ehepaar noch immer Tag für Tag ins Gesicht.
Um eine weitere Attraktion Guatemalas – Vulkane – zu erreichen, geht es wieder in einen Kleinbus. Die mangelnde Beinfreiheit bleibt, dafür ist die Straße geteert. Und doch quält sich das alte Gefährt nur langsam nach oben – bis es komplett stehen bleibt. Bange Blicke aus dem Kleinbus, die schnell verschwinden: Stau. Nach einigen Minuten kennen die Fahrgäste auch den Grund: Eine Prozession, hunderte Menschen laufen hinter einem Sarg in Richtung Tal. Danach setzt sich der Bus wieder in Bewegung, um so nah wie möglich zu dem Vulkan zu fahren. Mehr als 30 gibt es in Guatemala, einer der bekanntesten ist der 2522 Meter hohe Pacaya, der zugleich einer der aktivsten Vulkane weltweit ist. Die letzte schwere Eruption war 2010. Asche- und Sandregen lösten ein Verkehrschaos in der wenige Kilometer entfernten Hauptstadt Guatemala-Stadt aus, der Flughafen wurde geschlossen. Steinbrocken durchschlugen die Dächer von Hütten in nahe gelegenen Dörfern, ein Mann wurde sogar von einem dieser Geschosse erschlagen, erzählt Fremdenführerin Melany kurz vor dem Aufstieg. Rund um die Gruppe von 16 Touristen stehen fast genau so viele Kinder am Parkplatz. Sie alle möchten Wanderstöcke verkaufen; doch niemand nimmt das Angebot wahr – auch wenn es umgerechnet nur 50 Cent kostet.
Der Pacaya ist der bekannteste Vulkan Guatemalas
Dann geht es los; der Aufstieg soll kinderleicht sein, versprechen zumindest die Reiseagenturen in den Städten. Viele Besucher glauben dies, sind mit Sandalen oder gar in Flip-Flops unterwegs. Ein Fehler. Denn der Weg besteht größtenteils aus Steinen, Erde und Wurzeln und führt recht steil nach oben. Es geht vorbei an Avocadofeldern, immer wieder donnert und grollt der Pacaya oder einer der anderen Vulkane. "Keine Sorge, das ist normal", beruhigt Melany. Die bedrohlichen Töne der Vulkane werden schon bald von einem heftigen Regenschauer übertönt. Auch das sei nichts Außergewöhnliches. Doch für knapp die Hälfte der Gruppe ist das zu viel, sie dreht um.
Der Rest kämpft sich weiter nach oben, Schritt für Schritt, Meter für Meter. Sie alle wollen den rauchenden Pacaya sehen. Zwar gibt es seit ein paar Jahren keine glühenden Lavaströme mehr und auch die letzten Meter bis zum Krater sind verboten, doch es wartet etwas anderes auf die Touristen: Ein riesiges grau-schwarzes Feld, 150 Meter unterhalb des Vulkankraters, ist übersät mit kleinen Aschebrocken. Sie sind scharfkantig und fühlen sich rau an. Unter den Schuhsohlen knirscht das Basaltgestein. Etwas abseits ragen erkaltete Lavablöcke wie Gerippe in den Himmel. An einigen Stellen um den Krater herum gibt es Löcher, aus denen sehr heiße Luft nach oben steigt. In diesen Löchern lassen sich auf kleinen Holzstäbchen Marshmallows rösten. Und die schmecken – vor allem vor solch einer Vulkan-Kulisse. Und auch die Strapazen der Anreise sind vergessen.
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