Geschichte: Das war der wahre Medicus
Ohne ihn wären wir nicht die, die wir sind. Der große Lehrer in Noah Gordons jetzt im Kino angelaufenen Bestseller "Der Medicus" war einer der wichtigsten Denker des Mittelalters.
Mag "Der Medicus": Historien-Epos zwischen Orient und Okzident „Der Medicus“ gerade in der seit Donnerstag in den Kinos laufenden Gestalt noch so epochal und bedeutungsträchtig wirken – was an tatsächlicher Geschichte in der Erfindung des Autors Noah Gordon verwahrt liegt, ist bei weitem größer, mächtiger, spektakulärer. Es ist nicht weniger als eine wesentliche Korrektur des landläufigen Geschichtsverständnisses.
Die Wurzeln der Moderne liegen zeitlich gerade im Mittelalter
Nein: Das Mittelalter war eben nicht bloß jene Zwischenzeit, ein Dunkel zwischen lichter Antike und aufklärerischer Neuzeit. Und nein auch: Der Bruch mit der religiösen Verbrämung des Weltbildes ist kein originär europäischer Sprung durch Renaissance und Humanismus. Vielmehr also: Die Wurzeln der Moderne liegen zeitlich gerade im Mittelalter und räumlich gerade nicht nur im darauf doch so stolzen Westen – sondern entscheidend auch in Arabien. Der Philosophie-Historiker Ludger Honnefelder bilanziert: „Auf dem Hintergrund eines weltgeschichtlich singulären Austauschs der Kulturen kommen neue Themen auf die Tagesordnung: Freiheit und Kontingenz, Geschichte und Individualität, Natur und Erfahrung.“
Im Zentrum dieser historisch einmaligen Konstellation, dieser weithin geschichtsprägenden Entwicklung steht eben der, der auch in Noah Gordons Roman „Der Medicus“ als größter Lehrer seiner Zeit fungiert: Abu Ali al-Husain ibn Abdullah ibn Sina, kurz Ibn Sina, geboren um das Jahr 980 bei Buchara im heutigen Usbekistan, gestorben 1037 in Hamadan, im heutigen Iran. Im Film spielt ihn Oscar-Preisträger Ben Kingsley gewohnt pathetisch als Weisen. Tatsächlich verkörperte er für seine Zeit das, was in der Antike der Gelehrte war und in der Renaissance – lediglich um das Künstlertum erweitert – zum Universalgenie wurde.
Sein Haupt-Lehrbuch als Arzt, den „Kanon der Medizin“
Der Sohn eines Steuereintreibers wurde zunächst im Eigenstudium und dann bei Reisen durch die Bildungsstätten Arabiens zur führenden Figur der damals weltweit führenden Wissenschaft Persiens. Ibn Sina war natürlich wie bei Noah Gordon „Medicus“, also Arzt, aber er war auch Physiker und Chemiker und Geologe, Jurist und Mathematiker, Alchemist und Astronom, Musiktheoretiker und Theologe, also sowohl Geistes- wie Naturwissenschaftler. Allein mit der konkreten Politik tat er sich mitunter schwer und wurde wegen des Lavierens zwischen zwei Herrschern zeitweise eingekerkert. Sein wissenschaftliches Werk wirkte dafür weit über seine Zeit hinaus. Das gilt etwa für sein Haupt-Lehrbuch als Arzt, den „Kanon der Medizin“. Das gilt aber in noch größerem Umfang für sein Nachdenken über die Möglichkeiten der Wissenschaft selbst, über Natur und Mensch, Gott und die Welt – gilt also für seine Arbeit an der Wurzel alles Forschens, für die Philosophie.
Nur in Persien nämlich war damals das Werk desjenigen zu studieren, der in der Antike den naturwissenschaftlichen Blick als Ausgangspunkt des Wissens gewählt hatte: des Griechen Aristoteles. In Europa waren nur noch Rudimente vorhanden, galt alle Wahrheit ohnehin als himmlischen Ursprungs. Ibn Sina aber setzte sich mit den Fragen der Logik und der Metaphysik bei Aristoteles auseinander, also auch: Wie ist Erkenntnis möglich? Und was können wir über das Wesen der Dinge wissen? Darüber verhandelten seine Kommentare zu Grenzkonflikten zwischen Gottesglauben und menschlicher Vernunft. So schuf eine Enzyklopädie der Wissenschaften, die er mitverfasste, nicht nur Ordnung in den Disziplinen, sondern begrenzte die Möglichkeit des Wissens auch streng auf die jeweilige Methode – ein sehr moderner Gedanke. Und noch viel mehr anschließende moderne Fragen.
Dank Ibn Sina (und seinem Nachfolger Ibn Ruschd) kehrte im 13. Jahrhundert nicht nur ein in ganzer Breite bewahrter Aristoteles nach Europa zurück. Sie brachten auch die zentralen Debatten schon mit und forderten so hiesige Größen wie Albertus Magnus, Duns Scotus und Thomas von Aquin zu Auseinandersetzungen in aller Tiefe heraus, etwa im epochalen Universalienstreit. Und in deren Rezeption wiederum wurde aus Ibn Sina latinisiert der Philosoph Avicenna (aus Ibn Ruschd wurde Averroes), als der er heute als einer der bedeutendsten Denker des Mittelalters gilt. Weil unter anderem von ihm befruchtet der Mensch nun vor Phänomenen stand, die die Antike noch nicht kannte: etwa dem freien Willen und der Möglichkeit anderer Welten – reichlich Zumutungen für den Glauben.
Wer also wie der Philosophiehistoriker Ludger Honnefelder in seinem Buch „Woher kommen wir?“ über die „Ursprünge der Moderne im Denken“ schreibt, den führen sie wie Noah Gordons Helden nach Persien. Blickt man jedoch heute dorthin, schreibt der Berliner, erkenne man, wie fatal die Folgen sind, wenn der Dialog zwischen Wissen und Glauben abgebrochen ist. Ab Herbst 2014 wird es an deutschen Hochschulen eine neue Begabtenförderung geben. Dann vergibt Stipendien an muslimische Studierende für alle Fächer: das deutsche Avicenna-Studienwerk.
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