Theater-Kulturkampf: Das Ringen um die Berliner Volksbühne
Kaum je ist um die Ausrichtung eines Schauspielhauses so gestritten worden. Nach Frank Castorf ist nun Chris Dercon der Chef - zwei Welten prallen aufeinander
Lauter, kontroverser, hasserfüllter kann ein Intendantenwechsel nicht vonstatten gehen. Was da um die Berliner Volksbühne herum gerade geschieht, sucht seinesgleichen. Dort ist eine Ära zu Ende gegangen: 25 Jahre lang hat der Regieberserker Frank Castorf das Haus geleitet. Und seitdem bekannt ist, dass sein Nachfolger Chris Dercon wird, ist Feuer unter dem Berliner Theaterdach.
Was sich in Berlin vollzieht, ist ein großer Bruch. Denn gegensätzlicher könnten die Ansätze der beiden Intendanten, aber auch die Charaktere selbst nicht sein. Castorf hatte an der Volksbühne ein wunderbares Ensemble versammelt, das die Zuschauer liebten. Dercon vertraut hauptsächlich auf Gäste, auf Produktionen, die er von woanders her einkauft. Castorfs Volksbühne spielte schwerpunktmäßig Sprechtheater; Dercon setzt viel stärker auf den Tanz. Man spürt schon hier, wie groß die Gegensätze sind.
Wobei das allein die leidenschaftliche Ablehnung, die Dercon nun entgegenschlägt, nicht komplett erklärt. Da muss man noch ein wenig weiter ausholen. Kein Intendant in der über 120-jährigen Geschichte des Hauses war so lange im Amt wie Frank Castorf. 25 Jahre stand er der Bühne vor, kurz nach der Wende übernahm hatte er das Haus in Berlins Mitte, vormals DDR-Gebiet, übernommen. Auch Castorfs Wurzeln reichen in die DDR zurück, dort war er das Theater-Enfant-Terrible – eine Brecht-Inszenierung von ihm wurde einmal abgesetzt.
Castorfs Theater ist radikal, weil er seine Stücke zerlegt und völlig neu zusammensetzt, und er überfordert regelmäßig sein Publikum, weil die Theaterabende eine gefühlte Ewigkeit dauern. An der Volksbühne versüßte Castorf diese Wüterei, indem er beste Schauspieler aufbot und diese in der Aufführung ein ums andere Mal Feuerwerke zündeten. Die Volksbühne stand in den 1990er Jahren auf einerseits für progressive und subversive Theaterkunst, sie stand gleichzeitig inhaltlich für etwas Widerständiges. Vor dem Haus hatte der Bühnenbildner Bert Neumann eine Skulptur geschaffen, ein „Räuberrad“ auf zwei Beinen, das all dies symbolisierte.
Zweieinhalb Jahrzehnte in leitender Position, das ist viel länger, als üblicherweise Intendanzen dauern. Doch je länger Castorf dem Haus vorstand, desto schwieriger wurde es für Berlins Kulturpolitiker, an diesem Zustand etwas zu ändern. Irgendwann traute sich niemand mehr an diese Theaterinstitution heran. Während Berlin Hauptstadt und Weltmetropole wurde, während immer mehr Menschen von überallher in die Stadt zogen, war die Volksbühne ein kultureller Anker, etwas Vertrautes inmitten dieser kolossalen Veränderungen. Was es natürlich noch schwieriger machte, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Und so wechselte die Wahrnehmung dieser Bühne wieder. Erst war sie das widerständige Neue, dann stand sie für das Vertraute und kam dadurch – das Schicksal vieler einstiger Innovatoren – irgendwann altbacken daher: Ein Ort, an dem alles so gemacht wird, wie es immer gemacht wurde. Trotzdem blieb die Castorf-Volksbühne Kult. Schließlich aber nahm Tim Renner als Berliner Kulturstaatssekretär sein Herz in die Hand und entschied, Castorfs Vertrag 2017 auslaufen zu lassen – und Chris Dercon zu engagieren.
Als Kampfmittel kommt auch Bier zum Einsatz
Seitdem befindet sich Berlin im Theaterkrieg. Gekämpft wird mit Worten, mit Anwälten, mit Symbolen, mit dem Personal der Bühne, mit dem Publikum. Gekämpft wird aber auch mit Bier – es gab schon Attacken auf den jetzigen Ex-Kulturstaatssekretär Renner und auf Dercon –, gekämpft wird auch mit Fäkalien, die dem neuen Team vors Büro gelegt werden. Die ganze Bandbreite.
Um zu verstehen, warum der Kampf so heftig ausfällt und jetzt, zu Beginn der Intendanz von Chris Dercon, immer noch nicht beigelegt ist, muss man auch den Neuen in den Blick nehmen. Er stammt aus Belgien, war schon Direktor am Haus der Kunst in München (2003 bis 2011) und danach Direktor der Tate Modern in London. Dercon ist ein Kosmopolit, ein Weltbürger – und er kommt nicht vom Theater, sondern aus der Welt der Bildenden Kunst, die wie keine andere Sparte der Künste mit dem Finanzsystem und den gewaltigen weltweiten Geldströmen verknüpft ist.
Dercons Idee eines zeitgemäßen Theaters in der Metropole Berlin ist komplett anders als der Ansatz seines Vorgängers. Tanz, diese universelle Sprache des Menschen, nimmt in Dercons erstem Spielplan fast 50 Prozent des Programms ein. Und der Belgier holt so viele Gastproduktionen ans Haus, so dass vom Ensemble nicht mehr viel übrig bleibt. Für die Eröffnung hat er im Hangar 5 des Flughafens Tempelhof eine Außenspielstätte einrichten lassen. Dort startet die Spielzeit am Sonntag mit der zehnstündigen Tanzperformance „Fous de danse – Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof“ des französischen Choreografen Boris Charmatz. Die Zuschauer sollen dabei selbst zu Akteuren werden.
Im August hat das Castorf-Team noch in die Wege geleitet, das „Räuberrad“ und den Schriftzug „Ost“ auf dem Dach der Volksbühne entfernen zu lassen. Ein Kampf über die Symbole. Nun haben bereits mehr als 40000 Menschen eine Petition für den Erhalt der Volksbühne als Repertoire- und Ensembletheater unterschrieben. Dercon erwidert darauf: „Wir lassen uns nicht irritieren.“ Der neue Intendant sagt, dass er nach und nach ein Ensemble aufbauen wolle. Gelingt ihm nun mit den ersten Premieren der Befreiungsschlag? Wahrscheinlich ist, dass die Unruhe und die Anfeindungen die neue Leitung der Volksbühne noch einige Zeit begleiten werden, dafür hatte die Castorf-Bühne einfach zu viele und zu treue Fans. Schwerer kann ein Start kaum sein.
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