Beschleunigung des Alltags: "Nehmen Sie sich Zeit"
Zeitforscher beobachten eine zunehmende Beschleunigung unseres Lebens. Ein Interview mit der Berliner Soziologin Helga Zeihe führte Daniel Wirsching.
Wenn die Sommerzeit zu Ende geht, heißt es immer: Langschläfer können sich freuen. Dabei gilt immer auch: zu früh gefreut. Denn Zeitforscher beobachten eine zunehmende Beschleunigung unseres Lebens. Um dem etwas entgegenzusetzen, haben einige von ihnen 2002 die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) gegründet. Sie treten für einen bewussten Umgang mit der Ressource Zeit ein. Ein Gespräch mit der Berliner Soziologin und DGfZP-Mitglied Helga Zeiher.
Haben Sie jetzt Zeit für ein Interview?
Zeiher: Jetzt gleich? Ja, wir können uns jetzt gerne unterhalten.
Schön, dass Sie sich Zeit nehmen. Wobei: Geht das überhaupt?
Zeiher: Das geht ebenso wenig wie "Zeit geben", "Zeit kaufen" oder "Zeit verkaufen". Wer sich Zeit für etwas nimmt, der gibt ein Stück seines Lebens.
Was ist Zeit?
Zeiher: Zeit ist Leben. In dem Moment, in dem wir leben, findet Bewegung statt und Veränderung. Ein Prozess, der fortschreitet - das ist Zeit. Daneben gibt es unsere Uhrzeit. Das ist eine gesellschaftliche Verabredung, die im Laufe der Geschichte entstanden ist.
Viele finden, dass die Zeit rast.
Zeiher: Das ist ein subjektives Empfinden, wenn wir mehr tun wollen, als wir können. Das Problem ist die Menge nicht nur der Anforderungen an unser Tun, sondern auch die der Möglichkeiten, die wir nicht verpassen wollen.
Beschleunigung ist ein großes Thema.
Zeiher: Beschleunigung ist ein Trend der Moderne. Das hängt mit unserer Ökonomie zusammen. Fortschritt heißt: mehr und mehr und mehr. Und oft auch: immer schneller. Schnell arbeiten, konkurrieren, Geld verdienen. Ein weiterer Antrieb von Zeit-Beschleunigung ist Technik. Früher setzte man sich aufs Pferd und heute ins Flugzeug.
In Stuttgart protestieren Zehntausende gegen den Umbau des Bahnhofs. Wenden sich die Menschen im Grunde aber nicht gegen den Fortschritt und die Beschleunigung ihres Lebens?
Zeiher: Diese Theorie hat etwas für sich. Es ist ja auch Wahnsinn, was man bei dem Projekt Stuttgart 21 in Kauf nimmt für eine Beschleunigung der Reise um wenige Minuten.
Die Fahrzeit im ICE von Ulm nach Stuttgart soll sich halbieren.
Zeiher: Es wäre hilfreich, wenn man mehr diskutieren würde: Brauchen wir diese Art von Beschleunigung wirklich?
Was macht Beschleunigung mit uns?
Zeiher: Wenn wir meinen, alles immer schneller machen zu müssen, machen wir die Dinge weniger gut und gründlich. Denken Sie nur an das sogenannte Multitasking: zur gleichen Zeit vieles tun.
Ist Beschleunigung etwas Negatives?
Zeiher: Man sollte Beschleunigung nicht verteufeln. Sie ist es auch nicht allein, die zu Zeitkonflikten führt. Berufstätige Eltern mit kleinen Kindern etwa müssen mit komplizierten Zeitbedingungen zurechtkommen.
Wie hat man früher Zeit empfunden?
Zeiher: Das Zeitempfinden baut man im frühesten Kindesalter auf. Man lernt den Zeitgebrauch, der in der jeweiligen historischen Epoche üblich ist. Wer heute zu den Älteren gehört, war Filme gewohnt, die viel langsamer geschnitten waren. Manche Ältere bestaunen Kinder und Jugendliche, wie sie den heutigen Filmen mit ihren schnellen Schnitten folgen können.
Was schätzen Sie: Wie lange hat unser Gespräch gedauert?
Zeiher: Mir kam es kurz vor. 15 Minuten vielleicht?
Es waren 20. Ich tippe jetzt alles ab und maile Ihnen den fertigen Text in etwa einer Stunde zu, ja? Dann können Sie prüfen, ob alles stimmt.
Zeiher: Nehmen Sie sich ruhig etwas länger Zeit. Dann wird es gründlicher.
Interview: Daniel Wirsching
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