Im Hamsterrad: Wenn Eltern ihren Stress an die Kinder weitergeben
Offenbar stresst die Gesellschaft die Eltern. Eltern stressen die Kinder, denen dann emotionale Intelligenz fehlt.
„Da kommt eine brisante Welle auf uns zu.“ Der bekannte Autor und Psychiater Michael Winterhoff („Tyrannen müssen nicht sein“) hat in den zurückliegenden Jahren ein neues gesellschaftliches Phänomen beobachtet: Immer mehr Kinder entwickeln keine oder nur geringe emotionale Intelligenz. Der Grund: Wenn Eltern permanent unter Druck stehen, dann hat das nach Meinung des Experten zur Folge, dass beim Nachwuchs die Voraussetzung für die emotionale Entwicklung fehlt. „Eltern sollen Sicherheit und Stabilität vermitteln. Wenn sie das nicht mehr können, dann überträgt sich die Unrast der Erwachsenen auf die Kinder“, sagt Winterhoff im Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen. Immer mehr von ihnen litten schon unter Schlafstörungen.
Betroffene lernen nicht mehr aus Konflikten
Der Bonner Arzt, der zu diesem Thema gerade ein neues Buch („Lasst Kinder wieder Kinder sein“) veröffentlicht hat, schildert die Konsequenzen: „Kinder können die Reize, die auf sie eindringen, nicht mehr filtern“, sagt Winterhoff. Auch die Botschaften von Eltern und Lehrern kämen nicht mehr bei ihnen an. Das könne unter anderem dazu führen, dass Schüler beispielsweise im Unterricht lärmen würden, auf Ermahnungen wie auf Bestrafung von Lehrern nicht reagieren, weil sie sich gar nicht schuldig fühlten und nicht mehr zwischen Pause und Unterricht unterscheiden könnten.
Selbst aus Konflikten mit Eltern würden die Betroffenen nicht lernen, weil sie keine Verbindung zwischen ihrem Verhalten und den Folgen erkennen. „Sie verstehen nicht, warum sie bestraft werden“, sagt Winterhoff. Diese Kinder könnten seinen Erfahrungen zufolge sowohl zuhause wie in der Schule oder der Berufsfindung scheitern. Der Psychiater macht Veränderungen in der Gesellschaft für das Dilemma verantwortlich. Als Grund für diese Entwicklung vermutet er den schnellen Übergang vom analogen zum digitalen Leben. „Noch 1990 kamen die Leute vom Büro nach Hause und waren zwar auch erschöpft, aber dann war Ruhe, Freizeit.“
24-Stunden-Dauerkatastrophenmodus
Heute liefen viele Menschen in einem 24-Stunden-Dauerkatastrophenmodus. Sie fühlten sich gehetzt, fürchteten um ihren Job, hätten Zukunftsängste und würden auch den Anforderungen der Familie nicht mehr gerecht. „Kurz, sie können nicht mehr abschalten und ruhen nicht mehr in sich“, sagt Winterhoff. Von dem Phänomen betroffen seien in der Regel nicht nachlässige Menschen, sondern Eltern, die versuchen, ihre Kinder besonders liebevoll zu erziehen.
Der für Ausnahmesituationen von der Natur geschaffene Katastrophenzustand schalte sich nicht mehr ab. Das Gedankenkarussell würde permanent kreisen. Es gebe keine Entspannungsphasen mehr. Laut Winterhoff muss es dabei nicht nur um den Beruf gehen, sondern auch um Freizeitgestaltung oder Familie. Obwohl die Leute längst erschöpft seien, würden sie sich immer neue Dinge aufhalsen.
Verantwortlich für das Rutschen in den Stressmodus seien Dauerreize wie Fernsehen, SMS, Mails, Chats, Mobiltelefon, soziale Netzwerke im Internet, dazu Krisen- und Katastrophennachrichten – dieses Gemenge würde dazu führen, dass sich der innere Hebel aufgrund der Reizüberflutung unbewusst umlegt.
Winterhoff glaubt, dass das Problem Stress gelöst werden kann. Zunächst müssten sich Eltern entschleunigen, raus aus dem Hamsterrad. Er betont, dass sich Entspannungsmethoden wie Joga, Sport, autogenes Training nicht eignen. Seine Empfehlung klingt simpel: Allein und ohne Handy, Hund und MP3-Spieler in den Wald gehen. Dort nicht joggen, wandern, fotografieren, sondern nichts tun. Zunächst würden einem 1000 Gedanken durch den Kopf rattern, nach vier, fünf Stunden aber innere Ruhe einkehren. Der Katastrophenmodus sei abgeschaltet. Im zweiten Schritt empfiehlt Winterhoff bei der Kindererziehung auf Ratgeber zu verzichten: „Erziehen soll weniger über den Kopf als aus dem Bauch heraus erfolgen.“ So würde man individuell, nicht nach Schemata handeln.
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