Auf dem Weg in die Pflege-Krise
Schon bald wird das Geld hinten und vorne fehlen. Kommt jetzt der Pflege-Riester?
Norbert Blüm wollte vor allem eines: schnell helfen. Zwei Drittel aller Menschen, die Mitte der 90er Jahre in Deutschland in einem Pflegeheim lebten, waren auf Sozialhilfe angewiesen. Ambulante Dienste gab es wenige, und ein Platz in einem Heim kostete schon damals bis zu 5000 Mark im Monat. Die gesetzliche Pflegeversicherung jedoch, die Helmut Kohls umtriebiger Sozialminister daraufhin gegen den erbitterten Widerstand der Wirtschaft einzuführen begann, hat dieses Problem nicht wirklich gelöst. Im Gegenteil: Sie wird allmählich selbst zum Pflegefall.
Pflege-Krise nicht verhindert
Während das traditionelle Umlagesystem, in dem die Generation der Beschäftigten die Altersgelder ihrer Eltern und Großeltern erwirtschaftet, bei der Rente dank gewaltiger Bundeszuschüsse von 80 Milliarden Euro im Jahr noch einigermaßen funktioniert, stößt der Generationenvertrag bei der Pflege inzwischen an seine finanziellen und an sehr praktische Grenzen: Die Alten von morgen haben immer weniger Kinder – und die werden häufig genug über die halbe Republik verstreut sein, wenn nicht gar über die halbe Welt. Für diese Eltern hat die neue Mobilität, die die globalisierte Wirtschaft von ihren Beschäftigten verlangt, einen besonders hohen und bitteren Preis: Die Kinder haben weder die Zeit noch die Möglichkeit, sich um ihre pflegebedürftigen Mütter oder Väter zu kümmern. So ersetzt die professionelle (und teure) Hilfe zwangsläufig die Geborgenheit der Großfamilie, in der die Großeltern früher wie selbstverständlich zuHause versorgt und notfalls auch gepflegt wurden.
Schon in zwei, drei Jahrzehnten werden Millionen älterer Menschen ganz anders leben als heute, im ungünstigsten Fall in trister, kinderloser Einsamkeit, im günstigsten Fall als rüstige Rentner in einer Senioren-WG oder einem Mehrgenerationenhaus. Gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegebedürftigen nach verschiedenen Prognosen bis zum Jahr 2030 von heute 2,3 auf mindestens 3,4 Millionen und bis zum Jahr 2050 weiter auf fast fünf Millionen.
Für anspruchsvolle Versorgung reichen die Beiträge nicht
Ob die ambulanten Dienste dieser Flut dann noch Herr werden oder ob mit der Zeit eine Pflegeindustrie entsteht, die immer mehr Menschen in immer größere und anonyme Heime pfercht, wo sie dann von ukrainischen oder philippinischen Billigstpflegern betreut werden, hängt davon ab, was die Pflegekassen dann noch zu leisten vermögen. Mit Beitragssätzen von nicht einmal zwei Prozent eines Bruttoeinkommens jedenfalls ist eine anspruchsvolle Pflege in einer rasant alternden Gesellschaft nicht zu finanzieren. Erschwerend kommt hinzu, dass gut ausgebildete Pflegekräfte jetzt schon rar sind – und überdies so schlecht bezahlt, dass sich kaum ein Schulabgänger freiwillig für ihren Beruf entscheidet.
Um solche Fragen allerdings geht es beim Koalitionsgipfel am Sonntag allenfalls am Rande. Union und FDP werden sich bei der versprochenen Pflegereform, wenn überhaupt, nur auf bessere Leistungen für Demenzkranke und eine geringfügige Erhöhung der Beiträge verständigen – und sofort vorrechnen, dass ja gleichzeitig die Sätze für die Rente sinken, sodass unterm Strich niemand für seine soziale Absicherung mehr bezahlen wird als bisher. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Pflege kostet – und das nicht zu knapp. Die gesetzlichen Kassen leben von ihren Rücklagen, bis in vier Jahren werden diese Reserven aufgebraucht sein und die Nöte offensichtlich. Und spätestens dann wird die Politik die Versicherten wie bei der Riester-Rente sanft zu mehr Eigenvorsorge zwingen müssen.
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