Der letzte Präsident der UdSSR
Michail Gorbatschow wird heute 80 Jahre alt. Die Deutschen lieben ihn, in Russland wird er ignoriert. Und seine Treue zu Putin gibt vielen Rätsel auf
Moskau Michail Gorbatschow ist es gewohnt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Als Neuntklässler bewarb er sich in seiner Heimatregion in Südrussland um einen Posten im Komsomol, dem Jugendverband der Kommunisten. Als er sich nach seiner Vorstellungsrede hinsetzen wollte, hatte ihm jemand den Stuhl weggezogen. Gorbatschow stürzte, alle im Saal lachten. Doch der Sturz und der Hohn konnten den jungen Mann nicht bremsen. Er kam schnell wieder auf die Beine – und gewann schließlich die Wahl.
Dieses Erlebnis lehrte ihn, dass man nie aufgeben soll und an sich glauben muss, erinnert sich Gorbatschow. Eine Lektion, die bitter notwendig war. Denn wie damals als Schüler musste der erste und letzte Präsident der Sowjetunion in seinem späteren Leben viele Gemeinheiten und Rückschläge erleben. Doch letztendlich konnte er sich immer wieder durchboxen – auch wenn es zuweilen nur zum moralischen Sieg reicht. Wenn er am heutigen Mittwoch seinen 80. Geburtstag feiert, ergeht es ihm nicht anders.
Ein klein wenig wie damals, zu Schulzeiten, ohne Stuhl, muss sich Gorbatschow gefühlt haben, als er Ende Januar zur Eröffnung einer Fotoausstellung mit dem Namen „Perestroika“ kam. Nicht der Staat, sondern seine eigene Stiftung hatte sie organisiert, zu Ehren seines Jubiläums, in der Moskauer „Manege“. Die ehemalige Offiziersreitschule der Zaren steht direkt neben dem Kreml, leicht unterhalb. Doch kein einziger Politiker aus Russlands Machtzentrale ließ sich herab zu dem Mann, der die Welt im 20. Jahrhundert veränderte wie nur wenige andere Politiker und den russischen Staat in seiner heutigen Form erst möglich machte.
Ließ die Regierung den 80. Geburtstag von Gorbatschows Erzrivalen Boris Jelzin, der 2007 gestorben ist, am 1. Februar posthum groß feiern, so zeigen die Moskauer Machthaber Gorbatschow einen Monat später demonstrativ die kalte Schulter. Die große Feier findet denn auch im Ausland statt: in der Londoner Royal Albert Hall. Prominente und Stars wie Arnold Schwarzenegger, Bryan Ferry, Sharon Stone und die Scorpions werden den Jubilar am 30. März ehren – und ein ihm gewidmeter Preis soll ausgeschrieben werden für „Menschen, die die Welt verändern“. Gorbatschow feiere lieber in England als zu Hause, weil „es in der Heimat nicht viele gibt, die ihm gratulieren wollen“, feixte hämisch die größte Boulevardzeitung im Land, die Komso-molskaya Prawda.
Tatsächlich lebt Gorbatschow, dem seine gesundheitlichen Probleme anzusehen sind, in zwei völlig unterschiedlichen Welten, ja Realitäten. Auf der einen Seite ist der 80-Jährige, der im privaten Gespräch noch viel charismatischer und einnehmender ist als im Fernsehen, ein gefeierter Star, eine Ikone, ein lebendiges Denkmal – im Westen. Im eigenen Land aber ist Gorbatschow einer der meist gehassten Politiker. Im besten Fall machen sich die Menschen nur lustig über seinen südrussischen, provinziellen Zungenschlag und seine Schwierigkeiten, Sätze zu Ende zu bringen und Strukturen in seine Gedanken und Reden zu bringen – Dinge, in denen er seinem Duzfreund Kohl ähnelt. Viel mehr als solcher Spott wird es Gorbatschow – der gerne auch über sich selbst lacht – ärgern, dass er von vielen als „Vaterlandsverräter“ gesehen wird, dass man ihm vorwirft, er sei am Zusammenbruch der Sowjetunion schuld. In den neuen Schulbüchern, die auf Drängen von Wladimir Putin geschrieben wurden, lernen Millionen junger Russen wieder, dass Stalin ein großer Staatsmann war, der Russland Macht und Landgewinn sicherte – und Gorbatschow eine eher finstere Figur, die alles wieder zunichtemachte – und die gewonnenen Territorien, die DDR inklusive, wieder hergab. Ein Vorwurf, den Gorbatschow mit dem ihm eigenen Humor elegant kontert: „Wir haben Polen, Deutschland und Tschechien doch keinem anderen gegeben als den Polen, den Deutschen und den Tschechen.“
Dass die Sowjetunion völlig marode war und Gorbatschow lediglich den Mut hatte, die Wahrheit offen auszusprechen und die Konsequenzen zu ziehen, wird bis heute von einer Mehrheit der Russen verdrängt. Es scheint bei vielen vergessen, dass es nicht Gorbatschow, sondern sein Erzrivale Jelzin war, unter dem das Wort „Demokratie“ in Russland zum Schimpfwort wurde, weil sich einige wenige aus seinem Umfeld die gigantischen Bodenschätze Russlands aneigneten, während Millionen Menschen durch die Inflation alle Ersparnisse verloren.
Jelzin ließ als Präsident keine Gelegenheit aus, um seinen Vorgänger Gorbatschow zu demütigen – bis hin zum rechtswidrigen Ultimatum, innerhalb von 24 Stunden aus der Dienstwohnung auszuziehen. Dass Wladimir Putin auf solche Schikanen verzichtete und Gorbatschow sogar im Jahr 2000 zu seiner Amtseinführung in den Kreml einlud, muss bei dem Ex-Präsidenten dann als Tauwetter angekommen sein. Vielleicht war es auch der Anlass dafür, dass der letzte Generalsekretär kaum eine Gelegenheit ausließ, Putin zu loben. Er pries seinen klaren Kurs und seine Verfassungstreue auch dann noch, als Putin bereits ganz demonstrativ zeigte, dass er von Menschenrechten, Pressefreiheit und Demokratie nicht viel hält.
Selbst wohlmeinende Beobachter schüttelten den Kopf und rätselten, was hinter Gorbatschows Nibelungentreue zu Putin steckte. War die Scheindemokratie des Ex-KGB-Obersts das, was Gorbatschow in Wirklichkeit mit seiner Perestroika erreichen wollte? Oder hatte Gorbatschow Angst um seine Stiftung und das Wohlergehen seiner Familie? Anders als der Jelzin-Clan standen Gorbatschow und seine einzige Tochter Irina zwar nie im Verdacht, sich bereichert zu haben. Aber gerade deshalb musste Gorbatschow um das Überleben seiner Stiftung kämpfen.
Wäre Gorbatschow auf Kurs geblieben, er würde seinen 80. Geburtstag vielleicht nicht in London, sondern zumindest im Bolschoi-Theater feiern. Doch wie so oft in seinem Leben zeigte der Ex-Staatschef eine beachtenswerte Wandlungsfähigkeit. Beeinflusst hat ihn dabei wohl auch, was er als Sponsor – formell „Mit-Eigentümer“ – der Nowaja gaseta erlebte. Diese kritische Zeitung musste in den vergangenen Jahren den gewaltsamen Tod von vier Mitarbeitern beklagen. Die Bekannteste: Anna Politkowskaja.
Gorbatschow wurde vom Beschwichtiger zum Mahner. Ausgerechnet jetzt, wo kritische Worte viel riskanter sind als noch vor Jahren. „Schamlosigkeit“ wirft er Putin vor. Die Wahlen seien manipuliert, Putins Partei „Einiges Russland“ schlimmer als die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Es gebe zwar ein Parlament, eine Verfassung und Gerichte, aber all das sei nur „Dekoration“ und eine „Imitation von Demokratie“. Präsident Medwedew und Premier Putin zementierten ihr Machtmonopol, anderen politischen Kräften ließen sie keine Kraft zum Atmen.
Wie unfrei Russland 25 Jahre nach dem Beginn der Perestroika wieder ist, musste ausgerechnet deren Vater am eigenen Leib erfahren. Er würde selbst gerne noch einmal eine Partei gründen, berichtete Gorbatschow kurz vor seinem Geburtstag empört: „Aber im Kreml haben sie mir einfach klipp und klar gesagt, sie würden die nicht zulassen.“ Vielleicht kennen die Machthaber die Biografie Gorbatschows zu schlecht: Wenn man ihm den Stuhl wegzieht und ihn zum Fallen bringt, läuft er zur Hochform auf.
Boris Reitschuster hat bei der Augsburger Allgemeinen volontiert. Heute leitet er das Moskau-Büro des Magazins „Focus“.
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