Kommentar: Die Grünen haben nur noch ein Zugpferd - wenn überhaupt
Die Grünen sind grau geworden: Erst kommt Winfried Kretschmann – und dann lange nichts. Ein Jahr nach der verkorksten Wahl wissen die Grünen noch immer nicht, was sie wollen.
Der Veggie-Day ist Geschichte – und die wiederholt sich bekanntlich nicht. Mit dem Parteitag in Hamburg haben die Grünen endgültig einen Strich unter den verkorksten Wahlkampf des vergangenen Jahres gezogen, als sie mit missionarischem Eifer einen fleischlosen Tag in Deutschlands Kantinen und Steuererhöhungen auf breiter Front propagierten.
Ihr neuer, noch etwas diffuser Freiheitsbegriff allerdings stößt immer dort an seine Grenzen, wo es konkret wird: Ist die Wirtschaft nun Partner oder Gegner? Wie viel Liberalismus verträgt die Partei? Und, nicht zuletzt: Schadet die Freiheit, praktisch mit jedem koalieren zu können, den Grünen am Ende womöglich mehr, als sie ihnen nutzt?
Die Freiheit, Nein zu sagen, nehmen sich die Grünen irgendwann nicht mehr
Gegen das Bündnis mit Sozialdemokraten und Linken, das sich in Thüringen gerade anbahnt, regt sich in der Partei erstaunlich wenig Widerspruch. Tatsächlich jedoch ist das Experiment von Erfurt Ausdruck einer strategischen Sorglosigkeit, die der Parteispitze in Berlin zu denken geben muss. Wenn die Grünen je nach Bedarf mal mit der Union, mal mit der SPD und mal in einem bunten Dreier mit Roten und Dunkelroten regieren, stellen sie sich ohne Not in eine Ecke, in der sie nach ihrem Selbstverständnis nicht stehen dürfen: in der des Mehrheitsbeschaffers, bequem und berechenbar für die anderen Parteien, beliebig und seltsam ambitionslos. Die Freiheit, auch einmal Nein zu sagen, nehmen diese Grünen sich irgendwann nicht mehr.
Nüchtern betrachtet ist ein Bündnis mit der Union für sie die einzige Chance, auf absehbare Zeit wieder auf Bundesebene mitregieren zu können. Ein solches Bündnis aber muss vorbereitet werden und hat sich im Idealfall schon in zwei oder drei Bundesländern bewährt. Umso unverständlicher ist es, dass die Grünen sich in Sachsen einer Koalition mit der CDU verweigert haben, um in Thüringen umso bereitwilliger in das Boot der SPD und der Linken zu steigen. Das häufig bemühte Argument, jeder Landesverband entscheide frei über eine mögliche Regierungsbeteiligung, macht die Sache nicht besser. Eine Parteispitze, die weiß, was sie will, überzeugt, ohne zu intervenieren.
Die Linkspartei läuft den Grünen in Berlin den Rang ab
Diese Personaldebatte haben die Grünen am Wochenende aus guten Gründen nicht geführt – sie wäre für ihre neuen Spitzenleute alles andere als vergnügungssteuerpflichtig gewesen. Ein Jahr nach dem großen Wechsel haben sie das Vakuum an Einfluss und Professionalität, das durch den Rückzug von Claudia Roth und Jürgen Trittin entstanden ist, auch nicht ansatzweise füllen können.
In der Parteizentrale arbeiten Cem Özdemir und Simone Peter mehr gegeneinander als miteinander, und im Bundestag haben die Grünen nicht nur wegen der geringen Redezeiten Probleme, wahrgenommen zu werden. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt fehlt der Biss – und ihrem Kollegen Anton Hofreiter die Erfahrung. Alles zusammen fügt sich zu einem für die Grünen wenig schmeichelhaften Bild: Während sie in einigen Ländern durchaus erfolgreich regieren, läuft ihnen in Berlin die Linkspartei den Rang ab.
Die Grünen haben nur noch ein Zugpferd
Drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl ist das ein besorgniserregender Befund. Ja, die Grünen sind eine basisdemokratische Partei – aber auch eine basisdemokratische Partei braucht Menschen, an denen sie sich orientieren kann und die ihr in schwierigen Phasen auch Orientierung geben. In den Anfangsjahren war das, unter anderem, Petra Kelly, später folgten ihr Joschka Fischer und Jürgen Trittin, jede und jeder für sich unverwechselbar, umstritten auch, aber doch prägend für die Partei.
Nach dem Generationswechsel des vergangenen Jahres haben die Grünen, wenn überhaupt, nur noch ein Zugpferd – Winfried Kretschmann. Und der wird im Mai 67.
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